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Der Unions-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder.

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Abweichler in der Unionsfraktion: Wie weit darf Volker Kauder gehen?

Volker Kauder hat Abweichlern seiner Unionsfraktion offen gedroht. Er beruft sich dabei auf die Fraktionsdisziplin. Doch sein Verhalten ist umstritten.

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Die Warnung von Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) an Abweichler in den eigenen Reihen löst Proteste unter den Abgeordneten aus. Viele von ihnen lehnen es ab, sich maßregeln zu lassen und verweisen auf ihre Verfassungsrechte als Parlamentarier.

Was hat Kauder genau gefordert?

Volker Kauder sagte mit Blick auf die zahlreichen Nein-Stimmen aus der Unionsfraktion zu neuen Griechenland-Hilfen, dass dies für einzelne Abgeordnete Konsequenzen haben werde: „Die mit Nein gestimmt haben, können nicht in Ausschüssen bleiben, in denen es darauf ankommt, die Mehrheit zu behalten: etwa im Haushalts- oder Europaausschuss.“ Die Fraktionsführung hat daraufhin jedoch klargestellt, dass sie nicht vorhat, einzelne Ausschussmitglieder abzuziehen.

Was geschieht in den Ausschüssen?

In den 23 ständigen Ausschüssen wird ein wesentlicher Teil der parlamentarischen Arbeit geleistet. Die Mitglieder beraten als fachlich versiertes Gremium Gesetzentwürfe, bevor das Plenum darüber Beschlüsse fasst. Oft geht es darum, Kompromisse zu finden, weshalb die Sitzungen überwiegend nicht öffentlich sind. Die Parlamentarier haben sonst die Befürchtung, sich bei einem Schaulaufen vor Medien und Zuschauern nicht mehr einigen zu können.

Wer in welchen Ausschuss kommt, entscheiden die Fraktionschefs – heißt es jedenfalls auf der Bundestags-Website. In der Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT) ist nur von „Fraktionen“ die Rede. Die Fraktion bestimmt auch darüber, wer jeweils Ausschussvorsitzender wird. Dieser beruft die Sitzungen ein und leitet sie. So entspricht es einer Vereinbarung des Ältestenrats. Eigentlich weist die GOBT dieses Recht zunächst den Ausschüssen zu.

Warum sind Haushalts- und Europaausschuss so wichtig?

Der Europaausschuss ist für alle Rechtsakte zuständig, die aus der Europäischen Union kommen. Seine Rolle wird als einzige der ständigen Ausschüsse im Grundgesetz definiert. Der Haushaltsausschuss ist der Herr des Geldes und kontrolliert mit der Haushaltsführung des Bundes auch die Finanzhilfen zur Stabilisierung des Euro. Hier ist es üblich, dass die stärkste Oppositionsfraktion den Vorsitzenden stellen darf.

Verstößt Kauders Ansage gegen die Mandatsfreiheit der Abgeordneten?

Abgeordnete sind „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, heißt es in Artikel 38 der Verfassung. Die Vorschrift soll die Unabhängigkeit der Parlamentarier sichern, sie sollen nicht den Wegweisungen ihrer Parteien folgen, sondern auf das Volk und ihr Gewissen hören. Auch auf das Verhältnis zu Wählern und Interessengruppen zielt der Grundsatz des freien Mandats. Besonders sensibel ist die Schutzrichtung gegenüber der eigenen Fraktion. Ein imperatives oder parteigebundenes Mandat ist verfassungsrechtlich ebenso verboten wie ein förmlicher Fraktionszwang.

Allerdings sind die Mandatsträger zugleich Repräsentanten von Partei und Fraktion, weshalb das Bundesverfassungsgericht so etwas wie „Fraktionsdisziplin“ oder „Fraktionsloyalität“ anerkennt: Um der Erfüllung ihrer Aufgaben willen wird den Fraktionen die Befugnis zugestanden, ein möglichst geschlossenes Auftreten im Parlament durch Verfahrens- und Verhaltensregeln herbeizuführen. Als Druckmittel kommen etwa die Abberufung von Fraktionsämtern oder der Fraktionsausschluss in Betracht – und damit theoretisch auch ein Rückruf aus dem Ausschuss. Denn laut GOBT sollen sich dort ja gerade die Stärkeverhältnisse der Fraktionen widerspiegeln.

Wäre auch ein Rückruf von Abweichlern ohne Fraktionsausschluss zulässig?

Die parlamentarische Praxis geht davon aus. Im Bundestag wird so argumentiert: Wenn die Fraktionen die Ausschussmitglieder entsenden, dürften sie diese auch zurückholen. Faktisch aber würde der einzelne Abgeordnete damit derart stark gebunden, da das freie Mandat seine Funktion verloren hätte. Die Verfassungsrechtler gehen deshalb überwiegend davon aus, dass ein Rückruf erst bei Verfehlungen eines Abgeordneten möglich ist, die zugleich einen Fraktionsausschluss begründen.

Kennt Volker Kauder die Regeln des Bundestages nicht oder ignoriert er sie bewusst?

Man darf davon ausgehen, dass der Unionsfraktionschef aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung sehr genau weiß, wie er mit Abgeordneten umgehen kann, die von der Mehrheitsmeinung der Fraktion abweichen. Fakt ist: Einen formalen Fraktionszwang gibt es nicht und damit auch keine Reglementierung für jene, die ihn nicht beachten. Dass Kauder dennoch – mitten im Sommer – eine Waffe zückt, die er weder ziehen noch nutzen kann, ist ein Zeichen seiner fehlenden Überzeugungskraft in der Griechenlandfrage. Und gleichzeitig eine Machtdemonstration. Als Fraktionschef garantiert er die Regierungsfähigkeit der von seiner Partei gestellten Kanzlerin. Und die gerät in Gefahr, wenn sich – wie das im Laufe der Griechenlandrettung bisher geschehen ist – immer mehr Abgeordnete der Politik der eigenen Regierung widersetzen.

Kauders Einlassung ist mithin eine Warnung an die Abweichler und vor allem an potenzielle Nachahmer. Denn die nächste Abstimmung des Bundestages über weitere Milliardenhilfen an Athen naht und Kauder muss befürchten, dass im September mehr als 60 Mitglieder seiner Fraktion mit Nein stimmen werden. Wie ernst er es meint, sieht man vielleicht daran, dass sein parlamentarischer Geschäftsführer, Michael Grosse-Bröhmer, die Kritiker des Fraktionschefs am Montag deutlich ermahnte, man werde „schließlich nicht in erster Linie als Abgeordneter, sondern als Fraktionsmitglied in die Fachausschüsse geschickt, um dort die zuvor demokratisch abgestimmte Mehrheitsmeinung der Fraktion zu vertreten“. Und wer dauerhaft die Mehrheitsmeinung der Fraktion in seinem Ausschuss nicht vertreten könne, „sollte konsequenterweise in einen anderen Fachbereich wechseln“.

Wie gehen andere Fraktionen mit Abweichlern um?

Der Abweichler ist traditionell eine Erscheinung von Regierungsfraktionen und zeigt sich besonders gern in Zeiten großer Mehrheiten. Dann nämlich kann er sich als mutiger Parlamentarier im Wahlkreis feiern lassen und muss nicht befürchten, dass seine Nein-Stimme in einer unliebsamen Abstimmung im Zweifelsfall zum Sturz der eigenen Regierung führt. Abweichler in diesem Sinn hat es immer und überall gegeben, wobei sie selten gefragt werden, mit welchem Engagement oder gar Erfolg sie vor einer Abstimmung in der eigenen Fraktion um ihre inhaltliche Haltung gerungen haben. Vielmehr erscheinen sie in den Medien als Davids, die sich gegen vermeintliche Goliaths zur Wehr setzen. Sozialdemokraten, die sich an die scharfe Zurechtweisung von Abweichlern durch Fraktionsvorsitzende wie Herbert Wehner oder Peter Struck erinnern, werden Kauders Einlassungen als geradezu harmlos bezeichnen.

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