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Kein Millimeter Platz ist mehr frei in diesem historischen Augenblick.

© Reuters

Ägypten: Die Nacht der Revolution und der Tag danach

Hurrija heißt Freiheit auf Arabisch. Die Ägypter haben sie sich genommen und feierten diesen Moment eine ganze Nacht lang. Und während tags darauf ein Hauch von Normalität einkehrt, greifen die Flammen des Aufstands auf die nächsten Länder über.

Der M1-Abrams-Panzer sah aus wie ein bunter Zirkuselefant. Horden von jungen Leuten klammerten sich an seinen breiten Stahlleib. Allein die Spitze des beigen Kanonenrohres lugte noch aus der Fahnen schwingenden Menschentraube hervor. Kairo im Rausch, die Menschen wissen, sie haben Geschichte geschrieben.

Millionen Autohupen waren im Dauereinsatz. Außer sich vor Freude feiern die Menschen ihren wichtigsten Sieg seit 30 Jahren, vielleicht seit Beginn des modernen Ägyptens.

"Willkommen im Land der Freiheit", dröhnt es aus Lautsprechern auf dem Tahrir-Platz. "Wer Ägypten liebt, macht es nicht kaputt", ruft eine junge Frauenstimme in das Mikrofon. Neben der provisorischen Tribüne flattern die tunesische und ägyptische Flagge einträchtig unter dem mondklaren Nachthimmel. Vom Ampelmast herunter baumeln zwei dünne Stricke. Irgendjemand hat die Mubarak-Puppe abgeschnitten von ihrem symbolischen Galgen.

Ägypter sind kein Volk der Rache, sagen die Menschen. Ihren König Farouk I. ließen sie 1952 nach dem Militärputsch unbehelligt mit 150 Koffern in Alexandria auf einem Kreuzfahrtschiff davondampfen, der Kai schwarz vor Menschen, die ihm zum Abschied zuwinkten. Husni Mubarak dagegen will ägyptischen Boden nicht verlassen. Er hat sich am Freitag zusammen mit seiner Familie in dem Palast von Scharm El Scheich am Roten Meer eingeigelt, während die Träume der Menschen von ihrem neuen Ägypten am gleichen Abend in den Himmel wachsen.

Jeder der Millionen auf dem Platz der Befreiung hat seine eigenen Wünsche mitgebracht. "Wir wollen ein Land, in dem Mädchen nicht mehr belästigt werden", ruft eine Gruppe junger Frauen. "Wir werden heiraten", skandieren junge Männer, die nun auf Arbeit und Einkommen hoffen, um endlich eine Familie gründen zu können. Und über allem thront breit und dunkel an der Ecke zum Nil die Mugamma, das Zentrum der verrotteten Bürokratie in Kairo, in dessen Fluren schon so mancher in den Wahnsinn getrieben wurde. Wie ein Mahnmal erinnert das Gebäude daran, dass Ägypten eben auch ein Land mit fast unlösbaren Problemen ist, einer schier unreformierbaren Bürokratie und bis ins Mark von Korruption zerfressen.

Am nächsten Morgen beginnt auf dem Tahrir-Platz das große Aufräumen. Das Militär transportiert ausgebrannte Autowracks ab, rollt seinen Stacheldraht ein. Soldaten verladen die zu Blechbarrikaden umfunktionierten Bauzäune auf Lastwagen. Übernächtigte Demonstranten verpacken ihre Wolldecken und bauen ihre Zelte ab, während den Zeitungshändlern die Blätter aus den Händen gerissen werden. "Die Jugend hat es geschafft - Mubarak ist weg", heißt es auf den Titelblättern. Selbst die regimetreue Regierungspresse, die die Unruhen bis zuletzt als das Werk ausländischer Agenten denunziert hatte, schloss sich notgedrungen der allgemeinen Euphorie an. "Danke euch, ihr großes Volk von Ägypten", jubilierte das in London erscheinende Blatt "Al-Quds al-Arabi".

Mittwoch soll die Börse wieder öffnen. Und im Ägyptischen Museum haben Restauratoren begonnen, die bei der Plünderung beschädigten 70 Exponate wieder zusammenzuflicken. Selbst der staatliche Rundfunk gibt sich plötzlich einsichtig und geläutert. Man werde künftig eine "ehrliche und konkurrenzfähige" Berichterstattung anbieten, wolle sich "nur von der Wahrheit leiten lassen" und "dem Volk dienen", hieß es am Samstag in einer auf allen Frequenzen verlesenen Erklärung. Im Laufe der Unruhen waren dem Propaganda-Sender mehrere Journalisten abhanden gekommen. Sie hatten gekündigt, weil sie - wie es Star-Moderatorin Shahira Amin formulierte - nicht weiter Lügen verlesen wollten.

Von den Bürgersteigen rund um den Tahrir-Platz sind nur noch breite Sandbahnen übrig, alle Gehwegplatten wurden während der Straßenschlachten zu faustgroßen Wurfgeschossen zertrümmert. An der verwaisten "Kentucky- Fried-Chicken"-Filiale hängt noch das eilig gemalte Hinweisschild auf die provisorische Klinik, die die Organisatoren im Gastraum aufgebaut hatten. Draußen werden Karikaturen versteigert, die die jungen Leute in den letzten Tagen gezeichnet haben. Auf einer jagt die Sphinx als Löwe hinter Hosni Mubarak her, "Raus mit dir", steht in ihrer Sprechblase, "Suleiman rette mich", in der des panisch fliehenden Diktators.

Schräg gegenüber haben die Demonstranten ein kleines, provisorisches Mausoleum aufgebaut. Umsäumt von vier Messingsäulen, verbunden mit roten Samtkordeln sind zwei Dutzend Fotos von Getöteten um eine ägyptische Fahne herumgestellt. "Die meisten sind gestorben durch Scharfschützen auf den Dächern", sagt Mohamed Zanan. Sein weißer Kittel ist voll mit Unterschriften seiner Patienten zum Dank für seine Hilfe, an den Händen trägt er noch die Plastikhandschuhe des letzten Einsatzes.

Hinter ihm an der Hauswand haben seine Helfer Plastiktüten mit Klebeband befestigt, voller Mullbinden, Verbandszeug und Schmerztabletten. Hauptberuflich arbeitet der 48-Jährige in einem Medizinkonzern, in seiner Freizeit leitet er eine "Wohltätigkeitsklinik" am Stadtrand von Kairo, wo sich die Armen für umgerechnet 80 Cent behandeln lassen können.

Offiziell habe der Oberste Militärrat zwar jetzt den Staat übernommen, sagt er. "Doch die Macht, die hat das Volk. Und wir werden keine Rückkehr nach 1952 erlauben", setzt er hinzu in Anspielung auf den Militärputsch der freien Offiziere unter dem späteren Präsidenten Gamal abdel Nasser. "Wir haben unser erstes Ziel erreicht", sagt er. "Aber wir werden wachsam bleiben und die Versprechungen der Armee, auf die Reformen aufzupassen, an ihren Taten messen."

Andere auf dem Platz der Befreiung denken genauso wie er. Sie wollen erst weichen, wenn sie von der Armee "klare Zusicherungen" haben, dass die Reise politisch in Richtung Demokratie und nicht in Richtung Militärdiktatur geht.

Das Oberkommando der Armee brütete derweil hinter verschlossenen Türen über seinem "Kommuniqué Nummer 4", was die Bevölkerung über die nächsten konkreten politischen Schritte informieren sollte. Am Nachmittag verkündete dann ein Sprecher im Fernsehen, Ägypten werde alle seine internationalen Verträge weiter anerkennen - und damit auch den 1979 geschlossenen Friedensvertrag mit Israel. Weiter legte die Militärführung fest, dass die von Hosni Mubarak vor zwei Wochen ernannte Regierung zunächst geschäftsführend im Amt bleibt - und zwar auf unbestimmte Zeit. Gleichzeitig beteuerte sie erneut, Ziel sei, "eine friedliche Machtübergabe", die den Weg bereite "für eine frei gewählte Zivilregierung und eine demokratische Nation".

Und während in Kairos Alltag nach 18 Tagen zum ersten Mal ein Hauch von Normalität einkehrte, griffen die Flammen des Aufstands noch am selben Tag auf die nächsten Länder über. "Nach Mubarak ist Ali dran", skandierten tausende junge Protestierer in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen. Und in Algier lieferten sich Demonstranten wütende Straßenschlachten mit der Polizei.

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