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Befürworter werben mit dem Slogan „Ja zur Verfassung ist ein ja zum Islam“.

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Ägypten: Worum geht es beim Streit um die Verfassung?

Die Verfassung entzweit Ägypten: Säkulare und Liberale kritisieren den hohen Stellenwert der Scharia, denn Meinungsfreiheit, Freiheitsrechtre und Schutzrechte für Frauen und Kinder seien zu vage formuliert.

Die Verfassung entzweit Ägypten, auch am Freitag flogen wieder Steine. Doch nun sollen die 51 Millionen Bürger an den Urnen entscheiden. Die Befürworter werben mit dem Slogan „Ja zur Verfassung ist ein ja zum Islam“. Die Opposition schaltet große Anzeigenseiten mit vielen Argumenten. Säkulare und Liberale wehren sich gegen den hohen Stellenwert der Scharia und kritisieren, Meinungsfreiheit, Freiheitsrechte von religiösen Minderheiten sowie Schutzrechte für Frauen und Kindern seien viel zu vage formuliert.

Im Kern der Auseinandersetzung steht Artikel 2, der die Prinzipien der Scharia als die Quelle des Rechts fixiert. Anders als in der Vorgängerverfassung, wird die Rolle der Scharia diesmal in weiteren Artikel präzisiert und ausgebaut – und bietet daher aus Sicht der Kritiker dem Gesetzgeber eine Handhabe, den Menschen künftig einen islamisch-konservativen Lebensstil aufzuzwingen oder auch Körperstrafen zu erlauben. So definiert Artikel 219 die Prinzipien der Scharia als „die allgemeinen Grundlagen, Regeln und Auslegungen sowie alle Quellen, die von der Lehre des sunnitischen Islams und der allgemeinen Mehrheit akzeptiert sind”. Artikel 4 gewährt darüber hinaus den Islam-Gelehrten der Al-Azhar-Anstalt in allen Scharia-Fragen das letzte Wort und damit ein zentrales Mitspracherecht bei künftigen Gesetzen.

Zudem enthält die neue Verfassung eine Reihe sehr vage formulierter moralischer und sozialer Staatsziele, die breite Spielräume in ihrer Auslegung erlauben. Artikel 10 bestimmt Religion, Patriotismus und Moral zu den Grundlagen der ägyptischen Familie. Der Staat habe die Aufgabe, diesen „wahren Charakter der ägyptischen Familie“ zu schützen ebenso wie „Ethik, öffentliche Moral und öffentliche Ordnung“, wie es Artikel 11 formuliert.

Die Glaubenspraxis wird in Artikel 43 ausdrücklich garantiert, jedoch nur für die „göttlichen Religionen“ Judentum, Christentum und sunnitischen Islam. Andere Glaubensgemeinschaften, wie Bahai oder Schiiten, genießen diese Rechte nicht. Nach den Artikeln 31 und 44 ist es verboten, individuelle Personen beziehungsweise Propheten oder Gesandte Gottes zu beleidigen - beides Gummiparagraphen, die künftig gegen Oppositionelle, Atheisten, säkulare Ägypter oder Islam-kritische Blogger eingesetzt werden könnten. Schon jetzt haben in Ägypten Anklagen wegen „Verunglimpfung der Religion“ stark zugenommen ebenso wie Strafverfahren wegen „Verunglimpfung der Justiz“ oder „Verunglimpfung des Präsidenten“.

Kritiker vermissen zudem wichtige soziale Schutzrechte für Frauen und Kinder. So wird Kinderarbeit in der neuen Verfassung nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Minderjährigkeit ist nicht mit einer festen Altersgrenze von 18 Jahren definiert. Ein Verbot von Kinderhandel und Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen fehlt – in Ägypten nach wie vor ein weit verbreiteter Missstand. In der Präambel der Verfassung ist die Gleichheit von Mann und Frau lediglich allgemein festgeschrieben, eine Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Religion oder Rasse jedoch nicht ausdrücklich untersagt.

Ein eigener Artikel, der die Frauenrechte garantieren sollte, wurde gestrichen. Dessen Reste stehen nun im Familienartikel 10, der Kinderbetreuung und ärztliche Versorgung der Kinder staatlich garantiert, „um Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen“. Ein Fortschritt sind staatliche Fürsorge und Schutz für Alleinerziehende, Geschiedene und Witwen – das gab es bisher nicht. Denn die Scheidungsraten in Ägypten klettern rasant, liegen bei jungen Paaren in den Städten oft schon nahe 50 Prozent. Und meist gehen die Frauen leer aus – beim Kindesunterhalt und später bei der Altersvorsorge.

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