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Ägyptens starker Mann: Staatschef al Sisi hat die politische Opposition weitgehend ausgeschaltet.

© Reuters

Ägypten-Experte Stephan Roll: "Ägypten ist noch weniger verlässlich als die Türkei"

Am Donnerstag reist die Bundeskanzlerin nach Ägypten. Ein Gespräch mit dem Experten Stephan Roll über Kairos Flüchtlingspoker, autoritäre Herrschaft und Merkels Erwartungen.

Herr Roll, am Donnerstag besucht Angela Merkel Ägypten. In was für ein Land reist die Kanzlerin?
Ein sehr repressives. Ägypten ist heute sogar noch repressiver als unter Langzeitdiktator Hosni Mubarak. Die politische Opposition ist weitgehend ausgeschaltet. Eine kritische Zivilgesellschaft existiert ebenso wenig wie eine unabhängige Presse.

Inwiefern hat sich Ägypten unter Präsident Abdel Fatah al Sisi verändert?
Wir sehen schon eine gewisse Stabilisierung. Aber keine des Landes, sondern der autoritären Herrschaft. Die Unterdrückung im Land wurde seit dem Militärputsch im Sommer 2013 zunehmend „verrechtlicht“.

Das heißt?
Zum einen gibt es eine „außerrechtliche“ Repression, die auf reiner Polizeigewalt und -willkür beruht. Die hat auch keinesfalls abgenommen seit dem Militärputsch. Auf Polizeistationen wird nach wie vor gefoltert. In Gefängnissen herrschen grauenvolle Verhältnisse. Zum anderen engt das Regime den politischen Raum gezielt mithilfe von Gesetzen und Präsidialdekreten immer weiter ein.

Aber Angela Merkel hält Ägypten für ein „stabilisierendes Element“ in einer Krisenregion. Liegt die Kanzlerin da falsch?
Ich sehe mit Bedauern, dass Ägypten von westlichen Politikern vor allem mit Libyen und Syrien verglichen wird. Und dann kann man schon sagen, dass es Ägypten besser geht. Aber ich würde dagegenhalten: Schon Hosni Mubaraks Herrschaft war äußerst problematisch. Und sie hat letztlich zum Aufstand 2011 geführt. Heute steht Ägypten noch viel schlechter da.

Kann die Regierung in Kairo unter diesen Gegebenheiten für Europa ein Partner in der Flüchtlingskrise sein?
Man kommt sicherlich nicht an Ägypten vorbei. Das Land ist mit geschätzt mehr als 90 Millionen Einwohnern das größte in der Region. Dort gibt es sehr viele Transitflüchtlinge. Die Behörden sprechen von fünf Millionen Menschen. Zwar halte ich diese Zahl für zu hoch gegriffen, allerdings wollen aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Lage immer mehr Ägypter ihre Heimat verlassen. Die Frage lautet: Findet man mit dem Regime eine Übereinkunft, die diesem Problem gerecht wird? Ich habe große Zweifel, dass Kairo ein verlässlicher Partner sein kann. Da spielen knallharte Interessen eine zentrale Rolle, die nicht unbedingt mit unseren deckungsgleich sind.

Zum Beispiel?
Wir wollen, dass weniger Menschen zu uns kommen. Doch das ist den Machthabern in Kairo zunächst einmal völlig egal. Ihnen geht es in erster Linie darum, finanzielle Hilfe zu bekommen. Die benötigt das Land ganz dringend, weil es faktisch pleite ist. Deshalb wird das Regime zunächst auch Entgegenkommen signalisieren. Etwa, indem die Grenzen besser gesichert und damit weniger Menschen herausgelassen werden. Fluchtursachen werden auf diese Art nicht beseitigt. Hierfür bedürfte es auch politischer Reformen wie mehr Rechtsstaatlichkeit, besserer Regierungsführung und politischer Teilhabe. Das sehe ich unter Präsident Sisi überhaupt nicht. Vielmehr kann es jederzeit passieren, dass die Grenzen wieder geöffnet werden. Dann nämlich, wenn die Staatskassen wieder leer sind. So machen sich Deutschland und Europa erpressbar.

Das erinnert an die Türkei, oder?
Ehrlich gesagt, ich halte Ägypten für noch weniger verlässlich als die Türkei. Offenbar pokern die Herrschenden in Kairo in der Flüchtlingsfrage knallhart. Und stellen jetzt schon ganz enorme Forderungen.

Wie macht sich denn die wirtschaftliche Not in Ägypten im Alltag bemerkbar?
Einschneidend war Ende 2016 die Freigabe des ägyptischen Pfunds gegenüber dem US-Dollar. Das hatte zur Folge, dass viele Importprodukte inzwischen doppelt so viel kosten wie vor der Abwertung. Die Lebenshaltungskosten sind dramatisch gestiegen. Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile über ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der internationalen Armutsrate von 1,9 US-Dollar pro Tag lebt.

Kann diese Krise für Staatschef Sisi bedrohlich werden?
Das ist eine schwierige Frage. Reflexartig könnte man sagen: Ja, da ist eine Gefahr. Denn den Menschen geht es de facto schlechter als vor dem Volksaufstand gegen Mubarak. Aber sie haben mit der Erhebung schlechte Erfahrungen gemacht. Es gab danach lange Phasen der Unsicherheit. Die Leute sind müde und ermattet, sind damit beschäftigt, überhaupt über die Runden zu kommen. Da bleibt wenig Zeit, um auf die Barrikaden zu gehen. Und dann ist da noch der Sicherheitsapparat. Der ist wesentlich effektiver und effizienter als 2011 in der Lage, politische Bewegungen im Keim zu unterdrücken.

Al Sisi ist nicht zuletzt Präsident geworden, weil er Schutz vor Terrorismus versprochen hatte. Wie groß ist die islamistische Bedrohung für Ägypten?
Man muss zwischen fanatischen Dschihadistengruppen wie dem IS und moderaten Islamisten wie der Muslimbruderschaft unterscheiden. Letztere sind geschwächt, ja zerschlagen. Die Führungskader sitzen im Gefängnis, andere sind ins Ausland geflüchtet. Dazu kommen Richtungskämpfe in den eigenen Reihen. Zum Beispiel wird heftig debattiert, ob Gewalt ein legitimes Mittel des Widerstands sein kann. Von den Dschihadisten geht dagegen eine große Gefahr für das Regime aus. Sie können es zwar nicht stürzen, aber schwächen. Denn al Sisi hat den Ägyptern versprochen, Schutz und Sicherheit zu garantieren. Umso mehr Anschläge verübt werden, desto schlechter stehen die Regierenden da.

Stephan Roll ist bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin zuständig für Ägypten. Er ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Naher und Mittlerer Osten und Afrika.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

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