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Nach dem Bombardement. Männer haben Babys geborgen und bewegen sich durch die Trümmer von Aleppo.

© AFP

Krieg in Syrien: Aleppo, die Hölle auf Erden

Die Unicef-Mitarbeiterin Esraa al Khalaf erzählt vom Leben in Aleppo in Zeiten des Krieges. Ein Augenzeugenbericht aus Syrien.

Schreckensort, Apokalypse, Hölle auf Erden – Aleppo ist zum Synonym für den mörderischen Wahnsinn des Syrienkrieges geworden. Wie lebt es sich in einer Stadt, die eigentlich keine mehr ist? Wie kommt man über die Runden, wenn es an allem mangelt und man überall um sein Leben fürchten muss? Irgendwie. Dieses Irgendwie, den Alltag an einem der gefährlichsten Orte der Welt, beschreibt die Unicef-Mitarbeiterin Esraa al Khalaf im nachfolgenden Augenzeugenbericht.

„Ich kann mich kaum mehr an einen ‚normalen’ Tag in Aleppo erinnern. Wie sollen wir inmitten dieses vernichtenden Krieges ein normales Leben führen? Aber irgendwie leben wir weiter. An den meisten Tagen vergessen wir, auf die Uhr zu sehen und nach Hause zu gehen. Ich habe hier in Aleppo Medizin studiert, und die Stadt ist mein Zuhause geworden. Aber wie die meisten Syrer bin ich in den vergangenen fünf Jahren sehr oft umgezogen.

Vor dem Krieg hatte ich ein gemütliches Haus, aber ich musste fliehen, als die Gegend zur Konfliktzone wurde. Als ich Ende 2013 nach Aleppo zurückgekommen bin, war die Stadt kaum noch wiederzuerkennen. Ich habe mein Haus und die Privatklinik verloren. Ich wurde von meiner Familie getrennt und bin mehrfach zwischen Hotels und anderen Häusern umgezogen. Letztes Jahr habe ich mich in einer relativ ruhigen Gegend niedergelassen, aber als vor Kurzem die Gewalt eskaliert ist, musste ich wieder fliehen. Im Moment wohne ich bei Freunden.

Ich liebe diese Stadt, obwohl ich vermisse, wie es einmal war. Es fehlt mir, in den Straßen spazieren zu gehen und mich völlig sicher zu fühlen. Ich vermisse die Altstadt und die Zitadelle. Ich hatte immer den Eindruck, dass ihre Steine sprechen können und allen davon erzählen, wie großartig diese Stadt ist.

Als Ernährungsexpertin bei Unicef komme ich mit dem Leben von vielen Kindern in Berührung. Jeden Tag denke ich an die Kinder, denen ich begegne.

Ich traf Ali, als er sechs Monate alt war und infolge der Belagerung seiner Gegend unter schwerer Mangelernährung litt. Unicef hat geholfen, Ali zu evakuieren. Wir haben ihn acht Monate lang behandelt, und es ging ihm langsam besser. Das Lächeln auf seinem ehemals verweinten, erschöpften Gesicht war die größte Belohnung für mich.

Tragisches Ende

Aber Alis Geschichte hatte leider ein tragisches Ende. Er war erst zwei Jahre alt, als er bei einer Bombardierung starb. Ich werde Alis Lächeln nie vergessen – ich sehe ihn in jedem Kind des gleichen Alters.

Ich stehe gerne früh auf, um mich auf den bevorstehenden Tag einzustellen. Ich fahre mit dem Auto durch die Straßen und beobachte die Menschen. Die wichtigsten Meetings halte ich gerne früh am Morgen ab, wenn die Stadt am ruhigsten ist. Dann geht es los: Ich mache Ortsbesuche, bewerte die Situation und was am dringendsten gebraucht wird, treffe mich mit Partnerorganisationen, gebe Empfehlungen für die nächsten Schritte und sorge dafür, dass die Kinder die benötigte Hilfe erhalten.

Jeder einzelne Tag in Aleppo ist eine Herausforderung, ganz besonders seit die Kämpfe zugenommen haben. Unsere Stadt ist in einen westlichen und einen östlichen Teil geteilt. Sich zwischen beiden Teilen frei zu bewegen, ist nicht immer möglich, und dadurch ist es sehr viel schwieriger, die Kinder zu erreichen. Seit Anfang des Jahres war es uns nicht mehr möglich, in die östlichen Viertel zu gelangen. Aber wir unterstützen NGOs, die im östlichen Teil von Aleppo Hilfe für Kinder und schwangere Frauen leisten, zum Beispiel die Kinder auf Zeichen von Mangelernährung untersuchen und behandeln und sie impfen. Auch wenn ich nicht selbst in den Osten gehen kann, bleibe ich mit den dort tätigen Partnern im engen Kontakt. Wir statten sie unter anderem mit therapeutischer Nahrung aus. Aber wir brauchen dringend uneingeschränkten sicheren Zugang, um Hilfsgüter zu liefern und die Gesundheitshelfer zu unterstützen, die unter enormem Druck stehen.

Die Kämpfe haben schlimme Folgen für Kinder und Familien in der ganzen Stadt. Ähnliche Ernährungsprobleme sehen wir auch im Westen der Stadt, vor allem unter den rund 35 000 Menschen, die kürzlich fliehen mussten. Einige der Familien leben in Notunterkünften, die in Schulen und Moscheen eingerichtet wurden. Andere schlafen in Parks oder auf der Straße. Um diese Menschen zu versorgen, haben wir mit unseren Partner- NGOs schnell neun mobile Kliniken eingerichtet. Ich besuche die Kinder regelmäßig und behandele sie gegen Durchfall. Ein paar der Kinder hatten Hepatitis A, was mir sehr große Sorgen macht. Das Risiko von Krankheiten, die durch verschmutztes Wasser verursacht werden, hat zugenommen, seit die Wasserversorgung Anfang August unterbrochen wurde. Eine Epidemie wäre für die Kinder katastrophal. Mit einem großen Programm zur Wasser-Notversorgung versucht Unicef das Schlimmste zu verhindern.

Akt der Liebe

Die Krankenhäuser in der Stadt sind völlig überlastet. Nur ein Drittel der Gesundheitseinrichtungen sind funktionstüchtig, zwei Drittel wurden zerstört oder schwer beschädigt. Ärzte und Helfer arbeiten unter extrem gefährlichen Bedingungen, viele wurden dabei getötet und verletzt. Ich habe den größten Respekt und Bewunderung für jeden einzelnen Arzt in Aleppo. Das Leben von Kindern und Familien hängt von ihnen ab. Im August habe ich einen verletzten Arzt, einen Kollegen einer unserer Partnerorganisationen, im Krankenhaus besucht. Metallfragmente waren in seinem Gesicht stecken geblieben, nachdem seine mobile Klinik getroffen worden war. Er sah mich an und sagte: .Egal was passiert, ich will meine Stadt nicht verlassen.’

Jedes Kind in Aleppo hat eine Geschichte. Ich muss oft an den elfjährigen Ahmad denken. Ahmad hat Krebs und ist zusammen mit seiner Mutter im Krankenhaus. Durch die Kämpfe ist die Straße zu seinem Zuhause unpassierbar. Ahmad besteht nur aus Haut und Knochen. Als wir ihn besucht haben, war er sehr neugierig auf die Fotokamera, aber er war zu schwach, um sie in seinen zitternden Händen festzuhalten. Als sie ihm aus der Hand rutschte, war der Ausdruck auf seinem Gesicht einfach herzzerreißend. Ich habe ihm stattdessen mein Handy gegeben und ihn damit getröstet, dass es viel bessere Technik hat. Ich liebe das Foto, das er damit von mir gemacht hat und sein stolzes Lächeln, als er mir das Handy zurückgab.

In Aleppo zu arbeiten, ist ein Akt der Liebe und des Glaubens. Du bleibst nicht in einer der gefährlichsten Städte der Welt, wenn du nicht den Ort, die Menschen und die Kinder liebst. Du bleibst nicht hier, wenn du nicht ernsthaft an die Menschlichkeit glaubst und dich verpflichtet fühlst, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Vielleicht bin ich eine Träumerin, aber ich glaube fest daran, dass wir etwas verändern können.“

Esraa al Khalaf ist Ernährungsexpertin bei Unicef Syrien und arbeitet in Aleppo. Sie hat einen Doktor in pädiatrischer Medizin und hatte vor dem Bürgerkrieg ein eigenes Kinderkrankenhaus. Seit 2013 arbeitet sie für Unicef.

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Esraa al Khalaf

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