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Politik: Allein, es fehlt der Glaube

VOR DEM 3.OKTOBER

Im Mai 1979, vor ihrer Wahl zur Premierministerin, richtete Margaret Thatcher ein eindringliches Wort der Ermutigung an das darniederliegende Volk: „Irgendwo vor uns liegt abermals Größe für unser Land. In der Tiefe meines Herzens weiß ich das." So hoch hat Angela Merkels Rede „Quo vadis, Deutschland?“ dann doch nicht gegriffen. Und Gerhard Schröder hat seinen pragmatischen Reform-Purismus nicht aufgegeben. Dabei sind die Krisen des Vereinigten Königreichs vor Beginn der Ära Thatcher und die deutsche im Jahr 2003 in mancherlei Hinsicht durchaus vergleichbar: Die kollektive Stimmung im Gemeinwesen ist depressiv – sie ist es, weil die Lage objektiv, ganz unbestritten, verheerend ist: Die Wirtschaft liegt am Boden, dem Sozialstaat droht der Infarkt, das Zutrauen in Politik und Staat ist tief erschüttert. Und die geläufigen Heilungsrezepte, sie wollen nicht mehr greifen.

Mit Blick auf die konkreten Therapien sehen die Kuren für Deutschland, die Regierung und Opposition dem Land jetzt empfehlen, natürlich anders aus als jene, mit denen die „eiserne Lady“ dem kranken Königreich zu Leibe rückte. Doch in einem, im Wesentlichen, gleichen sie sich dann wiederum doch. Die Gesellschaft als Ganzes und jeder Bürger als Einzelner sollen im Stahlbad der Freiheit gesunden: Mehr Eigenverantwortung – weniger Staat, mehr Leistungsprinzip – weniger Fürsorge, mehr Markt – weniger Soziales, so lauten die Losungen. Entsagung, Zumutung, Opfer – die Versprechungen der neuen Zeit.

Eine Nation sei „ein geistiges Prinzip", so hat es der französische Religionsphilosoph Ernest Renan nach dem Zusammenbruch der Zweiten Republik formuliert, geformt aus dem „gemeinsamen Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen" und einem „gemeinsamen Wollen in der Gegenwart". In diesem Sinne konnte Thatcher ihrem Volk harte Zeiten verordnen und doch auf die Wiedererlangung von Größe zielen – das aber kann Deutschland nicht. Thatchers Programm war unpopulär, aber es ließ sich als Gemeinschaftswerk gestalten. Was in Deutschland so nicht möglich ist, denn an einen gehörigen Teil des „reichen Erbes an Erinnerungen" mag man lieber nicht erinnert werden.

Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als habe die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik genügend Identifikationspunkte entwickelt, um der Gesellschaft moralischen und nationalen Rückhalt, auch für Zeiten der Krise, zu bieten. In Angela Merkels Beschwören einer „zweiten Gründerzeit" klingt diese Hoffnung leise nach. Doch gerade das, was den nationalen Charme der Bonner Republik ausmachte, steht jetzt zur Disposition und gilt als das eigentliche Problem: jene für deutsche Verhältnisse ganz ungewöhnlich freundliche, auf sozialen Ausgleich bedachte Staatlichkeit.

Die zweite Chance zu nationaler Identifikation, Deutschland als Gemeinschaftswerk zu begreifen, dessen Größe im friedlichen Einigungsprozess liegt, war rasch vertan. Wer darauf vertrauen durfte, dass blühende Landschaften fast von allein entstehen – allenfalls der unsichtbaren Hand des Marktes und anonymerer Finanzströme bedürfen –, der ist zur Gemeinschaftsanstrengung erst gar nicht aufgerufen. Wie viel damit verloren ging, konnte man im Flutsommer 2002 kurzzeitig ermessen.

Nun, da der wärmende Kachelofen des Sozialstaats abglüht, klingen auch die Botschaften, wie es weitergehen soll, kalt. In ihrer gestrigen Rede hat die Vorsitzende der CDU gar nicht erst versucht, Werte als mehr denn technische Orientierungsmarken zu beschreiben. Die Erklärungsnot des Kanzlers hat denselben Grund. So allerdings kann Großes nicht werden. Deutschland, armes Vaterland.

Peter Siebenmorgen

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