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Politik: An der Seite des Dompteurs

Von Christoph von Marschall

Es klappt ja doch mit den deutschen Wünschen. Wer was in der EU Kommission wird, will deren Chef José Barroso erst am 19. August verkünden, eines ist aber schon klar: Günter Verheugen wird Industriekommissar und Vizepräsident, trotz der Eifersüchteleien der großen EU-Staaten, trotz der Zweifel an seiner ökonomischen Kompetenz und trotz des Streits um die richtige Wachstumspolitik. Ein zentrales Wirtschaftsressort in Kombination mit dem Vizeposten hatte der Kanzler angepeilt – und bekommen. Wenn das kein Grund zur Freude ist. Zumal der Erfolg dadurch geadelt wird, dass Barroso den Wunsch anderer großer Länder nach einem zentralen Wirtschaftsressort (Binnenmarkt, Wettbewerb) offenbar nicht erfüllen will.

Doch worauf dürfen wir uns freuen: Muss Deutschland nicht mehr fürchten, in seiner Industriepolitik von Brüssel gegängelt zu werden? Wird ein Streit wie der um die Vergabe der Mobilfunklizenzen oder die Chemiegesetze mit dem damaligen Industriekommissar Liikanen sich nicht wiederholen, weil nun ein Deutscher über die Direktiven entscheidet? Das wäre ein krasser Irrtum. Zwar begreift jede nationale Öffentlichkeit das Kommissionsmitglied aus ihrem Land als „unsere Frau“ oder „unseren Mann“ in Brüssel. Die EU ist ja ein Zwitter aus supranationaler Organisation und auf sich bedachten Nationalstaaten. Wer aber mit der Absicht nach Brüssel geht, nationale Interessen durchzusetzen, hat dort in der Praxis schon verloren. Einfluss gewinnt und behält, wer den Partnern vermitteln kann, dass er sich um ihre Belange mindestens genauso intensiv kümmert. Verheugen weiß das. Weiß es auch der Kanzler?

Verheugens Brüssel-Erfahrung ist außerdem das beste Argument gegen das vermeintlich fehlende Fachwissen. Er war auch kein Estland- oder Slowakei-Spezialist, als er Erweiterungskommissar wurde, und hat doch allseits Anerkennung geerntet. Kommissare müssen vor allem Menschen führen und Interessen ausgleichen können – was auch heißt: EU-Belange daheim vertreten. Sachkenntnis dürfen sie sich im Job aneignen.

Freilich wird nicht überall so gedacht. In Paris zum Beispiel ist der Reflex, den „eigenen“ Kommissar als verlängerten Arm zu betrachten, stark ausgeprägt. In der Wirtschafts- und Wachstumskrise wächst die Versuchung noch, den nationalen Firmen Vorteile zu verschaffen. Auch deshalb will Barroso sensible Ressorts wie Wettbewerb und Binnenmarkt lieber Kommissaren aus kleineren, liberal geprägten Staaten wie Irland anvertrauen.

Was der Vizeposten wert ist – mehr Epaulette oder mehr Einfluss –, muss sich erst erweisen. Nach der Erweiterung werden die bisher 20 Ressorts auf 25 umverteilt. Das vermehrt die latenten Überschneidungen und verlangt nach Koordinierung. Über Verheugens Schreibtisch sollen alle Gesetzesinitiativen laufen, damit er sie auf ihre Nebenwirkungen prüft. Diese „Feuerwehr“-Funktion klingt nach Arbeit und Macht. Dennoch, nicht Verheugen, sondern Barroso läuft Gefahr, sich zu übernehmen. Er will den „Lissabon“-Prozess, also die Wachstumspolitik, zur Chefsache machen und die Außenbeziehungen (Außenhandel, Außen- und Entwicklungspolitik) koordinieren. Der EU-Kommissar als Dompteur nationaler Egoismen: Kann das gut gehen? Wenn Verheugen Barroso hilft, den Protektionismus ein wenig einzugrenzen und Europa durch Liberalisierung einen Wachstumsschub zu verschaffen, würden die Deutschen mehr gewinnen, als nationaler Egoismus herausholen kann. Wir leben von der Dynamik des Binnenmarkts.

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