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Der französische Premier Manuel Valls.

© AFP

Apartheid in Frankreich?: Heimat ist mehr als ein Wort

Premierminister Manuel Valls hat eine territoriale, soziale und ethnische Apartheid in Frankreich ausgemacht. Das kann etwas bewirken - und das gesellschaftliche Bewusstsein in Frankreich ändern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Im März 2006 kam Lassana Bathily aus Mali nach Frankreich, illegal. Er war 16. Dass er 2011 eine Aufenthaltserlaubnis bekam und nicht abgeschoben wurde, hat er seinen Lehrern, seinen Ausbildern und einer Menschenrechtsorganisation zu verdanken. Am Dienstag übergab ihm Innenminister Bernard Cazeneuve persönlich die Einbürgerungsurkunde. Das war der Dank Frankreichs, dass Lassana Bathily, der Moslem, 15 meist jüdischen Kunden des von einem islamistischen Terroristen überfallenen Pariser Supermarktes das Leben rettete.

Dies ist das eine Frankreich. Das andere schilderte fast zeitgleich Premierminister Manuel Valls. In Frankreich habe territoriale, soziale und ethnische Apartheid einen Teil der Bevölkerung zur sozialen Randgruppe gemacht, sagte er und beklagte eine tägliche Diskriminierung, nur, weil jemand nicht den richtigen Familiennamen oder nicht die richtige Hautfarbe habe oder einfach, weil die Person eine Frau sei.

Südafrika, USA - und Deutschland

Beide Frankreichs gehören zusammen. Wenn es das Frankreich der Rassentrennung nicht gäbe, müsste ein junger Mann nicht für eine Heldentat mit der französischen Staatsbürgerschaft belohnt werden. Er bekäme sie, wenn er lange genug im Lande lebt, sich gesetzestreu verhält und geregelter Arbeit nachgeht. Apartheid kommt nicht von selbst. Apartheid entsteht, weil der Staat sie will oder duldet. Ihr zu entkommen, ist viel schwerer, als sie einfach geschehen zu lassen. In Südafrika und in den Vereinigten Staaten sehen wir, wie lange Rassentrennung nachwirkt, auch wenn es sie eigentlich nicht mehr geben sollte.

Deutschland hat keinen Grund, mit dem Zeigefinger anklagend auf Frankreich zu deuten, denn drei Finger dieser Hand weisen dann auf uns zurück. Frankreich ist spätestens seit dem Zusammenbruch seines Kolonialreiches vor 50 Jahren mit einer massiven Einwanderung konfrontiert – und hat sie eigentlich bis heute nicht so recht als Migration ins Mutterland begriffen, weil die, die da kamen und kommen, meist fließend Französisch sprechen. Auch die alte Bundesrepublik und selbst das vereinigte Deutschland haben lange, fast bis zur Jahrtausendwende, nicht erkennen wollen, dass dies längst ein Einwanderungsland ist.

Ein Signal für Veränderungen?

In Deutschland wie in Frankreich hat die Mehrheitsgesellschaft verdrängt, dass die Millionen, die kamen oder ins Land geholt wurden, nicht nur eine Pflicht zur Respektierung der vorhandenen Werteordnung haben – was nicht Aufgabe der kulturellen Eigenständigkeit bedeutet –, sondern dass auch diese Mehrheitsgesellschaft ihrerseits Pflichten hat. Dazu gehört vor allem, das Recht auf gleiche Bildungs- und Berufschancen zu gewährleisten. Das ist die unabdingbare Voraussetzung für soziale Integration. Wer sich in Schule und Beruf ausgegrenzt, heimatlos, fühlt, ist ein Opfer der Apartheid, ob die nun staatlich gewollt oder nur fahrlässig oder desinteressiert hingenommen wird. Damit wird er – es sind nicht nur, aber vor allem junge Männer – Teil einer Randgruppe, empfänglich für politische Extremismen und abgedrängt in Wohngebiete, die geradezu symbolhaft für die Isolierung stehen.

Wenn Manuel Valls, selber Migrant, dies so schonungslos thematisiert, kann das ein Signal für eine veränderte Einstellung der offiziellen Politik sein und damit der erste Schritt zu einer Änderung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Damit wird er wohl keine Wahl gewinnen – aber vielleicht die Zukunft seiner Nation. Lassana Bathilys Freunde sind in Frankreich übrigens nach wie vor nur geduldet.

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