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Politik: Arbeitsmarkt: Zeit ist Geld

Auf den ersten Blick scheint die Situation einfach: In Deutschland werden immer mehr bezahlte Überstunden geleistet. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit wird die Zahl der Überstunden in diesem Jahr voraussichtlich um 110 Millionen auf 1,91 Milliarden steigen.

Auf den ersten Blick scheint die Situation einfach: In Deutschland werden immer mehr bezahlte Überstunden geleistet. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit wird die Zahl der Überstunden in diesem Jahr voraussichtlich um 110 Millionen auf 1,91 Milliarden steigen. Für das laufende Jahr rechnet die Behörde mit 63,2 Stunden bezahlter Mehrarbeit pro Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite sind nach wie vor knapp vier Millionen Menschen ohne Arbeit.

Würden die Unternehmen nur einen Teil der Überstunden beschäftigungswirksam abbauen, ließen sich auf einen Schlag Hunderttausende neuer Arbeitsplätze schaffen. So sehen es zumindest die Gewerkschaften. Am Dienstag, anlässlich der Vorstellung der jüngsten Arbeitslosenzahlen, bekräftigten sie ihren Appell an die Wirtschaft, Neueinstellungen vorzunehmen, um Überstunden abzubauen. Die Arbeitgeber lehnen diese Forderung ab. Handwerkspräsident Dieter Philipp fordert die Bundesregierung stattdessen auf, möglichst rasch ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen.

Gesucht: Fachkräfte

"Wir brauchen in vielen Bereichen dringend Fachkräfte, die in Deutschland nicht verfügbar sind", sagte Philipp der "Berliner Zeitung". Auf diesen Mangel reagierten viele Firmen heute notgedrungen, indem sie ihre Beschäftigten zu Überstunden heranzögen. "Wir brauchen eine vernünftige, europaweit abgestimmte Einwanderungsregelung, die dazu führt, dass alle Branchen der deutschen Wirtschaft genügend Fachkräfte haben", fügte er hinzu. Die gerade beschlossene Green-Card-Regelung zur Beseitigung des Fachkräftemangels in der IT-Branche reiche nicht aus.

Die Vizechefin der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), Ursula Konitzer, wiederum konterte, die Ausweitung bezahlter Überstunden widerspreche den Vereinbarungen im Bündnis für Arbeit. Ohne ein stärkeres Engagement der Wirtschaft würden durchgreifende Erfolge bei der Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen weiter auf sich warten lassen. Sie warf den Arbeitgebern vor, entgegen der Absprachen die Zahl der bezahlten Überstunden drastisch ausgeweitet zu haben. Dies sei "nicht hinnehmbar", da die Gewerkschaften mit moderaten Tarifabschlüssen Vorleistungen erbracht hätten.

Jeder Zweite arbeitet länger

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte davor, das Überstundenvolumen von knapp zwei Milliarden zu bagatellisieren. Mehrarbeit beschränke sich nicht auf wenige Arbeitsplätze. Nach DGB-Informationen werden im Westen auf 53 Prozent aller in den vergangenen zwölf Monaten besetzten Stellen regelmäßig Überstunden geleistet. In den neuen Ländern seien es 45 Prozent der Arbeitsplätze. Ein beträchtlicher Teil dieser Überstunden lasse sich in zusätzliche Stellen umwandeln. Nach Berechnungen der Gewerkschaft könnten durch Überstundenabbau mindestens 400 000 neue Arbeitsplätze entstehen.

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Dirk Niebel, erklärte dagegen, Arbeitgeber bräuchten keine Überstundenbeschränkung oder ein Verbot. Stattdessen müsse den Unternehmenschefs die Möglichkeit eingeräumt werden, den Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen flexibler zu handhaben. PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch forderte die Bundesregierung auf, die Wirtschafts- und Strukturpolitik auf Beschäftigungssicherung zu konzentrieren. Angesichts der hohen Überstundenzahl sei eine gerechte Verteilung der Arbeit zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen, zwischen Männern und Frauen durch Arbeitszeitverkürzung ohne Kaufkraftreduzierung geboten. Die PDS sei für die Schaffung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors.

Auch Berlins Arbeitssenatorin Gabriele Schöttler (SPD) schloss sich den gewerkschaftlichen Forderungen an, Arbeitsplätze durch Überstundenabbau zu schaffen. Eine Entlastung des Arbeitsmarktes durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sei weiterhin notwendig. Generell verbessere sich die Situation in Berlin jedoch "langsam, aber stetig", sagte Schöttler nach Bekanntgabe der Erwerbslosenzahlen.

44 Millionen Stunden in Berlin

Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen seien so günstig wie lange nicht mehr, sagte Schöttler. Diese Ansicht teilten auch immer mehr Berliner Unternehmen. Die nun auch vom Bundesrat beschlossene zweite Stufe der Steuerreform werde weitere positive Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung und für mehr Beschäftigung bringen. Vor diesem Hintergrund appellierte die Senatorin an die Unternehmen, Überstunden abzubauen und dafür neue Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. In fast der Hälfte aller Berliner Betriebe würden Überstunden absolviert. 1998 seien in Berlin insgesamt 44 Millionen Überstunden geleistet worden. "Dies bietet Potenzial für neue Arbeitsplätze, welches mehr genutzt werden sollte", sagte Schöttler.

Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen, Margareta Wolf, warnte davor, undifferenziert nach einer Einschränkung der Überstunden zu rufen. "Die Spezialisten, die da Überstunden leisten, sind auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht kurzfristig zu ersetzen", sagte Wolf. Insgesamt müsse die Wirtschaft aber "mehr für die Ausbildung von Fachkräften tun".

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