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"Frankreich, hör auf!" In Ankara protestieren Türken gegen das geplante französische Gesetz, das die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe stellen soll.

© Reuters

Armenierfrage in der Türkei: Gründungsmythos und Staatsehre

Warum sich Türkei so heftig gegen den Vorwurf des Armenier-Völkermordes wehrt: Sorgen um Reparationszahlungen spielen nur eine Nebenrolle. Es geht um das türkische Selbstverständnis.

Immer wenn die Armenierfrage auf der internationalen Bühne zum Thema wird wie derzeit in Frankreich, reagiert die Türkei mit parteiübergreifender Empörung und Sanktionsdrohungen. Kein anderes historisches Thema bringt die türkische Politik so in Rage wie die Ereignisse von 1915 bis 1917, als im untergehenden Osmanischen Reich mehrere hunderttausend Armenier bei Massakern und Todesmärschen ums Leben kamen. Warum wehrt sich die moderne Türkei so heftig gegen den Vorwurf eines Völkermordes, der mehrere Jahre vor ihrer eigenen Gründung im Jahr 1923 verübt wurde?

Die Sorge wegen möglicher Reparations- oder Gebietsansprüchen der Armenier spielt bei den türkischen Reaktionen nur eine Nebenrolle. Viel wichtiger ist die Erschütterung der türkischen Staatsehre. Generationen von Türken sind mit dem Leitgedanken erzogen worden, dass ihr Land eine „historisch saubere Nation“ ist, wie es der deutsche Historiker Christoph K. Neumann einmal ausgedrückt hat. Das betrifft nicht nur den Staat von Mustafa Kemal Atatürk, der 1923 auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gegründet wurde. Türkische Schulbücher lehren zudem, dass die Osmanen von Minderheiten wie den Armeniern von innen angegriffen wurden – etwa durch armenische Freischärler, die in Ostanatolien die anrückenden russischen Truppen unterstützten.

Der Vorwurf, die osmanische Regierung habe 1915 die Armenier als Volk auslöschen wollen, trifft deshalb gleich mehrere empfindliche Nerven der modernen Türkei. Einige Gründerväter der Republik waren im Ersten Weltkrieg in die Massaker an den Armeniern verwickelt. Mehrere Männer, die bei der Befreiung Anatoliens von der Besatzung der Weltkriegs-Siegermächte in den Jahren zwischen 1918 und 1923 mitwirkten, wurden als mutmaßliche Drahtzieher von Massakern gegen die Armenier gesucht. Wenn der moderne türkische Staat dies als Tatsache akzeptiert, bringt er die bisherige Vorstellung von der „sauberen“ Nation zum Einsturz. Das Armenier-Thema ist laut Neumann „eine Frage der türkischen Identität geworden“.

Ein Eingeständnis, dass die Osmanen viele wehrlose Menschen, darunter Alte, Frauen und Kinder, rücksichtslos abschlachten ließen, nur weil es sich um Armenier handelte, ist für Ankara noch aus einem anderen Grund schwierig: Ein solcher Schritt würde die Osmanen, die von der offiziellen Geschichtsschreibung als Opfer innerer und äußerer Intrigen dargestellt werden, mit einem Schlag zu Tätern werden lassen. Auch das hätte weitreichende Folgen für das türkische Selbstverständnis.

Inzwischen gibt es in der Türkei etliche Intellektuelle, Wissenschaftler und Journalisten, die diese für ihre Landsleute unangenehmen Zusammenhänge offen diskutieren und fordern, die Republik müsse den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte ins Auge sehen. Bei anderen schlimmen Ereignisse, wie staatlichen Massakern an kurdischen Aleviten in den 1930er Jahren, bei denen mehr als 10.000 Zivilisten starben, ist dies inzwischen geschehen: Ministerpräsident Erdogan entschuldigte sich kürzlich „im Namen des Staates“ für das begangene Unrecht.

Im Fall der Armenier-Massaker ist dies wesentlich schwieriger, weil die Grundfesten der Republik berührt sind. Dennoch habe die offenere Debatte seit einigen Jahren eine „Rückkehr der Erinnerung“ ermöglicht, sagt der Istanbuler Politologe Cengiz Aktar. Ziel sei ein ehrlicherer Umgang mit der Geschichte. Aktar und andere sind überzeugt, dass die türkische Gesellschaft heute dazu bereit ist. Der türkische Staat ist es allerdings noch nicht.

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