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Armut: Im Schatten der Krise

Wie sich das Chaos in der Finanz- und Wirtschaftswelt auf die Ärmsten in Deutschland auswirkt – ein Stimmungsbild.

Berlin - Mitte des Monats wird ihr Geld knapp. Eine Woche vor Monatsende ist dann meistens gar nichts mehr da. Die zierliche junge Frau mit den blonden Locken kennt das schon, daran gewöhnt hat sie sich nicht. Seit Jahren ist die 33-Jährige, die ihren Namen nicht nennen will, arbeitslos, genauso wie ihr Mann. Gemeinsam haben sie sechs Kinder und, so rechnet sie vor, mit Kindergeld nur wenig mehr als 2200 Euro im Monat zur Verfügung. 700 Euro kostet die Miete, 80 Euro der Strom, dazu kommen Monatstickets für den Schulweg der drei ältesten Kinder. Es bleiben rund 1200 Euro zum Leben, grob gerechnet 40 Euro pro Tag.

Süßigkeiten für die Kinder kann sie sich jetzt, kurz vor Weihnachten, nicht häufig leisten, Obst kauft sie nur günstig auf dem Wochenmarkt. „Man muss sich behelfen“, sagt sie. Bisher hat das immer irgendwie funktioniert. Doch seit kurzem fürchtet sie, dass sie irgendwann ihre Kinder nicht mehr wird ernähren können. Sie hat Angst, dass die Finanzkrise auch die Ärmsten erreicht. Oder hat sie das schon?

Es ist Freitagabend. Und bei der Lebensmittelausgabe Laib und Seele der Schöneberger American Church wartet nicht nur diese junge Familienmutter, sondern mit ihr noch 66 andere Berliner. Arm sind alle. Sie sorgen sich um die nächste Mahlzeit und ums Geld. Für die Gesamtsumme von einem Euro können sie bei Laib und Seele Lebensmittel kaufen. Und seit ein paar Monaten reden sie im Warteraum in Schöneberg auch oft von „der Krise“.

„Wer nichts hat, der kann auch nichts verlieren“, sagen die einen. Die anderen sorgen sich und rechnen. Dass die Ängste vor teurem Lebensunterhalt berechtigt sind, bestätigt Rudolf Martens, Leiter der Forschungsstelle beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin. Wäre der Hartz-IV-Regelsatz bei der letzten Anhebung im Juli 2008 an die Teuerungsrate angepasst worden, dann hätte er für eine allein lebende Person 375 Euro betragen müssen, erklärt Martens. Der Satz wurde aber nur auf 351 Euro angehoben. Dass die Inflation nun stark gesunken ist, im Juli lag sie bei 3,3 Prozent, im November bei nur mehr 1,4 Prozent, nutze den Hartz-IV-Empfängern wenig. Zwar seien die Preisanhebungen zweifelsfrei geringer geworden, Lebensmittel und andere Produkte blieben aber nach wie vor teuer. Ebenso Strom. Die niedrigere Inflation ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vor allem auf gesunkene Öl- und Kraftstoffpreise zurückzuführen. Nur nutze das den Hartz-IV-Empfängern kaum, sagt Martens.

Wirtschaftsforschungsinstitute wollen bislang keine Prognose wagen für die Armen der Gesellschaft. Nur diejenigen, die täglich mit Bedürftigen zusammentreffen, wissen um mögliche Probleme. „Die Firmen disponieren anders“, sagt Sabine Werth. Die ehrenamtliche Vorsitzende der Berliner Tafel, zu der auch die Lebensmittelausgaben von Laib und Seele gehören, erzählt, dass es inzwischen schwierig wird, genügend Spenden von Discountern und Supermärkten zu bekommen. „Die kaufen nur ein, was sie selbst verkaufen können“, sagt sie. Für die Tafel fällt weniger ab. Auch die privaten Spender hielten sich in diesem Jahr zurück – sogar kurz vor Weihnachten, gewöhnlich eine Spendenhochzeit. „Das Spendenaufkommen bricht zwar nicht ein, aber wir merken es schon“, erklärt Werth.

Auch Thomas Gleißner, Sprecher der Caritas in Berlin und Brandenburg, sagt, dass inzwischen immer mehr Berliner soziale Beratungsstellen aufsuchen. Viele kämen mit der Geldsumme, die ihnen monatlich zur Verfügung steht, nicht klar. „Die gestiegenen Energiekosten sind problematisch“, sagt Gleißner. Dazu kämen Existenzsorgen, zum Beispiel die Angst um die eigene Arbeitsstelle – wenn es denn eine gibt.

Wer jetzt keine Stelle hat, der darf nur wenig Hoffnung in das nächste Jahr setzen. Rund 215 000 Berliner waren nach Angaben der Agentur für Arbeit im November 2008 arbeitslos. „Nicht mehr als sonst auch“, wie ein Sprecher der Agentur erklärt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) befürchtet allerdings vor allem in der zweiten Jahreshälfte 2009 einen starken Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Von bundesweit 300 000 Erwerbslosen mehr, geht DGB-Sprecherin Claudia Falk aus. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) rechnet im Jahresdurchschnitt für 2009 mit 130 000 Arbeitslosen mehr. Hochrechnungen des Instituts zeigen aber auch, dass die Zahl der Arbeitslosen bis zum Ende des nächsten Jahres um rund 470 000 ansteigen könnte – sollte die Wirtschaft im nächsten Jahr um ein halbes Prozent schrumpfen.

„Elend“ fühle er sich bei diesem Gedanken, sagt ein junger Mann namens Michael. Auch er wartet in Schöneberg auf die Ausgabe von Lebensmitteln. Er trägt eine Winterjacke in Tarnfarben, eine Schirmmütze und viele Ringe im linken Ohr. Michael ist 39 Jahre alt, so viel verrät er. Seinen ganzen Namen aber behält er lieber für sich. Er lebt von Hartz IV, ist ein sogenannter „erwerbsfähiger Hilfebedürftiger“, wie im November dieses Jahres rund 417 000 andere Berliner auch. Dies ergeben vorläufige Hochrechnungen der Bundesagentur für Arbeit.

Lange Zeit arbeitete Michael ehrenamtlich als Reinigungskraft in einem Hotel – um täglich wenigstens beschäftigt zu sein. Inzwischen verdient er sich bis zu 400 Euro im Monat mit Minijobs dazu, momentan hilft er beim Winterdienst. Um eine richtige Arbeitsstelle bemüht Michael sich schon lange. Doch weil er drogenabhängig war, keine Ausbildung beendet hat, stehen seine Chancen schlecht. Nun, mit der Krise im Nacken und der düsteren Aussicht auf 2009, sind sie umso schlechter.

Ein anderer aber sagt: „Die Sache mit der Arbeitslosigkeit betrifft mich nicht. Ich hab’ ja gar keinen Job.“

Auch Berliner Obdachlose, die sich abendlich in der Kältenotübernachtung der Stadtmission einfinden, erklären, dass sie – zumindest bislang – keinen Nachteil durch die Finanzkrise empfinden. Bettler erhalten noch immer genauso viel oder wenig Geld wie bisher, diejenigen, die auf der Suche nach Pfandflaschen durch die Innenstadt ziehen, finden noch immer gleich viele. Wer jahrelang gelernt hat, mit dem Allerwenigsten zurechtzukommen, der sorgt sich nicht, wenn weltweit die Aktienmärkte kollabieren – er bewahrt Ruhe.

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