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Tank an Tank. Hunderte Auffangbehälter stehen auf dem Akw-Gelände in Fukushima. Doch haben viele davon Lecks und halten strahlendes Wasser unzureichend zurück.

© dpa

Atomkatastrophe in Japan: Kettenreaktion in Fukushima

Panne folgt auf Krise folgt auf Panne: Betreiber Tepco bekommt die Atomruine nicht unter Kontrolle. Am Donnerstag stieg der Gehalt radioaktivem Cäsiums in der Bucht vor Fukushima dramatisch an.

Kaum ein paar Tage vergehen, in denen die Führungsriege des japanischen Energiekonzerns Tepco sich nicht für irgend einen neuen Zwischenfall in Fukushima rechtfertigen müsste. Die jüngsten Angriffe auf den Betreiber der Atomruine kamen von der inzwischen unabhängigen Atomaufsichtsbehörde, die nach Beginn der atomaren Katastrophe im März 2011 gegründet worden war. Tepco-Chef Naomi Hirose musste sich mehrfach anhören, sein Betrieb unternehmen noch immer zu wenig, um die Atomkrise in den Griff zu bekommen.

Vor einigen Tagen schloss sich sogar Premierminister Shinzo Abe der Kritik an. Bei einer Konferenz in Kyoto gestand er der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO): „Mein Land braucht Ihr Wissen und Ihre Expertise.“ Da täglich hunderte Tonnen radioaktives Wasser in den Pazifik und ins Grundwasser laufen und die Kapazitäten für die Lagerung des verstrahlten Kühlwassers in den havarierten Reaktoren an seine Grenzen stößt, wolle Japan nun internationale Experten auf das Kraftwerksgelände lassen. Der Schritt ist beachtlich. Denn vor einem Monat beteuerte Abe noch in Buenos Aires, wo sich Tokio mit Erfolg um die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2020 bewarb, dass in Fukushima „alles unter Kontrolle“ sei.

Wie wenig die Lage unter Kontrolle ist, zeigen die jüngsten Fehlermeldungen: Am Donnerstag ist in der Bucht vor der Atomruine Fukushima die Belastung mit radioaktivem Cäsium drastisch gestiegen. Wie Tepco bekannt gab, ergaben Proben innerhalb einer Barriere im Hafen des Akw am Mittwoch eine 13 mal höhere Belastung mit Cäsium im Vergleich zu Proben vom Tag zuvor. Nahe der Wasserentnahmestelle für das Kühlwasser der Reaktoren nach der Kernschmelze wurden 370 Becquerel pro Liter Cäsium-134 und 830 Becquerel pro Liter Cäsium-137 gemessen. Am Tag zuvor waren noch 26 beziehungsweise 64 Becquerel gemessen worden. Tepco vermutet als Ursache, dass radioaktiv verseuchte Erde ins Wasser gefallen sein könnte. Denn an dieser Stelle wird an einer Barriere gearbeitet, die künftig verhindern soll, dass das strahlende Wasser direkt in den Ozean fließt.

Am Mittwoch waren sechs Arbeiter radioaktivem Wasser ausgesetzt gewesen, weil ein Mitarbeiter versehentlich ein Rohr abgetrennt habe, teilte Tepco mit. „Es ist ernst, weil es ein weiteres Problem ist, das durch Nachlässigkeit verursacht wurde, aber ich glaube nicht, dass es eine ernsthaft beunruhigende Dosis ist“, sagte der Chef der japanischen Atomsicherheitsbehörde Shunichi Tanaka. Tepco-Angaben zufolge liefen am Mittwoch sieben Tonnen radioaktives Wasser aus, die aber innerhalb der Anlage geblieben seien. Zuletzt wurden fast täglich Probleme an dem Katastrophen-Reaktor bekannt, die meist auf Fahrlässigkeit zurückzuführen waren. Am Montag hatte ein Arbeiter aus Versehen einige Kühlwasserpumpen der havarierten Reaktoren abgeschaltet. Zuvor war ein Filtersystem für kontaminiertes Wasser ausgefallen, weil ein Tank übergelaufen war. Beim jüngsten Zwischenfall trennte der Angestellte ein Rohr ab, das für die Meerwasser-Entsalzung notwendig ist. Es sei ein großes Problem, dass laufend Unfälle geschehen, die hätten verhindert werden können, sagte Tanaka.

Abes Hilferuf kommt angesichts der Pannenserie ziemlich spät. Seit zweieinhalb Jahren wird von mehreren Seiten gefordert, dass sich Japan beim Krisenmanagement in Fukushima helfen lasse. Dass Tepco nicht genügend unternimmt, um der Lage Herr zu werden, ist auch nichts Neues. Fälle sind bekannt, in denen Arbeiter ohne Schutzkleidung auf dem Gelände waren, einige sind durch radioaktives Wasser gewatet. Auffangtanks für das strahlende Kühlwasser wurden behelfsmäßig zusammengebaut, mit dem Wissen, dass es Risse geben könnte. Und dann ist da noch die ständig verharmlosende Kommunikationspolitik des Unternehmens.

Vor einigen Wochen sagte Wiederaufbauminister Takumi Nemoto auf diplomatische Weise: „Es gibt Gegenden, in denen weiterhin Probleme bestehen und die Menschen für lange Zeit nicht in ihre Heimat zurückkehren können.“ 160 000 Menschen mussten nach dem 11. März 2011 evakuiert werden und leben seitdem in temporären Unterkünften, teilweise weit von ihrem Zuhause entfernt. Mit seiner Äußerung vermied es Nemoto, als Regierungsmitglied zu gestehen, dass die Lage nach wie vor katastrophal ist. Wann immer er aber Positives zu berichten hatte, erwähnte Nemoto die Bemühungen der Regierung, niemals die von Tepco. Zur Sicherheit auf dem Kraftwerksgelände und umliegenden Gebieten äußerte er sich kaum.

Das übernahmen zuletzt unabhängige Fachleute. Der zivilgesellschaftlich organisierte Verein „Citizens’ Commission on Nuclear Energy“ (CCNE) hält das Verhalten der Regierung und der ihr nahe stehenden Kräfte für verantwortungslos. CCNE-Mitlied Tetsuro Tsutsui, ein auf den Umgang mit kontaminiertem Wasser spezialisierter Maschinenbauingenieur, sagte zur Behauptung Abes vor einem Monat, dass Fukushima unter Kontrolle sei: „Ich finde, das ist eine sehr falsche Darstellung.“

Auch die Pläne der Regierung, im Boden unter den havarierten Reaktoren eine Eisschicht zu installieren, damit kein Grundwasser mehr in die Keller laufen kann, hält Tsutsui für fragwürdig: „Die Eiswand ist eine kritische Angelegenheit. Sie ist in diesem Ausmaß noch nicht erprobt, insofern können wir auch nicht sagen, ob das Vorhaben eine dauerhafte oder nur eine vorübergehende Option ist.“ Tsutsui empfiehlt stattdessen eine Eiswand an anderer Stelle, die sich in ihrer Lage an der Bewegungsrichtung des Wassers orientiert und deshalb nicht so groß sein müsse. „So wüsste man besser, womit man es zu tun hat.“

Für das Krisenmanagement fordert das CCNE unterdessen eine regierungsgeführte Taskforce, die sich unabhängiger Experten bedient. Vom Plan der Regierung, den nuklearen Schutt in Fukushima schon bald wegzuräumen, rät das CCNE ab, da dies die Lage nicht verbessere, sondern neue Risiken schaffe. Ende September hat der Verein seine Forderungen dem Parlament vorgelegt. Ob sie Wirkung entfalten werden, ist ungewiss. „Die Regierung betreibt ihre Krisenpolitik auf ihre Weise, um die Atomenergie in Japan nicht in Frage zu stellen. Es ist aber wichtig, auch die grundsätzlichen Risiken der Atomkraft zu kennen“, sagt Tsutsui.

Immerhin bewegt sich etwas. Dass die Atomaufsichtsbehörde in aller Öffentlichkeit Tepco kritisiert, wäre vor einigen Monaten noch kaum denkbar gewesen. Vor allem aber Abes Hilferuf ans Ausland könnte maßgeblich sein. Allerdings bat Abe bisher nur um Einschätzungen der IAEO. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Atomenergie an sich wird es weiterhin nicht geben. mit dpa/rtr

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