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45 Kilometer Menschenkette. Von Stuttgart bis zum AKW Neckarwestheim haben am Sonnabend 60 000 Menschen für den Ausstieg aus der Atomkraft demonstriert.

© dpa

Atomkraftgegner: Sie wollten niemals recht behalten

60.000 Menschen standen lückenlos Hand in Hand auf den etwa 45 Kilometern zwischen dem Atomkraftwerk Neckarwestheim und dem Amtssitz von Stefan Mappus. Die lang geplante Anti-Atom-Menschenkette kann eine Instrumentalisierung des Gau kaum vermeiden.

Sie wollten sie spektakulär platzen lassen – schwarze und gelbe Luftballons, die hunderte von Atomkraftgegnern am Samstagmittag überall auf dem Stuttgarter Schlossplatz in den Frühlingshimmel halten. Doch noch am frühen Vormittag sagen Claudia Roth und Cem Özdemir die angekündigte „Bildaktion“ ab. Natürlich haben die beiden Bundes-Grünen-Vorsitzenden keinen anderen politischen Wunsch, als dass der schwarz-gelben Koalition in Baden-Württemberg in 14 Tagen vom Wähler die Luft abgelassen wird. Gleichzeitig wollen sie aber wie alle anderen Teilnehmer der monatelang geplanten Menschenkette unter dem Motto „Atomausstieg in die Hand nehmen“ alles verhindern, was wie eine Instrumentalisierung der Katastrophe in Japan aussehen könnte.

„Wir sind alle bedrückt, es ist ein Tag der Trauer, das fast Allerschlimmste ist schon eingetreten“ sagt Roth, die wie andere Parteivertreter auch nicht offiziell sprechen wird auf der unter anderem vom BUND und den Naturfreunden Deutschlands schon vor Wochen organisierten Schlussveranstaltung zur Anti- Atom-Menschenkette. 60 000 Menschen haben teilgenommen. 20 000 mehr als erwartet standen lückenlos Hand in Hand auf den etwa 45 Kilometern zwischen dem Atomkraftwerk Neckarwestheim bei Heilbronn und der Villa Reitzenstein, dem Amtssitz von Ministerpräsident Stefan Mappus.

„Wir wären auf jeden Fall gekommen, aber jetzt ist es noch wichtiger“, sagen Eheleute aus Metzingen, die „ein Zeichen gegen die Verknüpfung der Politik mit der Atomlobby“ setzen wollen. Als „Hauptlobbyisten“ hat Claudia Roth den EnBW-Erwerber Mappus ausgemacht. Nicht zufällig stehe denn auch „der größte Schrottreaktor Neckarwestheim I“ im Südwesten.

„Ned blos schwätza – abschalda“ steht auf dem großen Transparent neben der Bühne. Immer wieder wird die Musik aus den Riesenlautsprechern unterbrochen, um neueste Nachrichten vom Unglücksreaktor Fukushima I zu verbreiten. „Wir wollten niemals recht behalten“ ruft ein junger Mann ins Mikrofon. Immer mehr Menschen strömen herbei. An den Ständen sind Anti-Atom-Fahnen, T-Shirts und Aufkleber heiß begehrt. Ein Elektrotechniker im entsprechenden Outfit, der sich als „eigentlich kein Demo-Typ“ bezeichnet, ist um 3.48 Uhr in Düsseldorf in den Zug gestiegen: „Absolut erschreckend“ nennt er die Bilder aus Japan, „man sieht, womit man so nie gerechnet hat.“ Mehr denn je sei er überzeugt davon, „dass man diese Technologie nicht verantworten kann.“ Nachmittags reihen sich die beiden Spitzenkandidaten von SPD und Grünen, Nils Schmid und Winfried Kretschmann in die jetzt festgefügte Kette vor dem Königsbau ein. „Historisch“ nennt ein Genosse den Moment, als sich die fast schon gefühlten Wahlsieger demonstrativ unterhaken. „Es kommen noch viele historische Momente“, sagt Schmid kurz. Danach bescheidet er alle Frager, die etwas zum Rückenwind für die Wahl wissen wollen: „Das ist doch völlig verfehlt, jetzt irgendwelche Spekulationen anzustellen. Heute sind wir nah bei den Menschen in Japan. Auch Kretschmann, dem seine geäußerte „Trauer und Sorge“ ins Gesicht geschrieben steht, rügt scharf: „Das ist schon das Allerletzte, so zu denken.“

Aber natürlich denken viele der Atom- Gegner so: „Nicht das Unglück, aber die Wahl kommt zum richtigen Zeitpunkt.“ Ein Genosse erinnert an das einst kanzlernützliche Oderhochwasser. Und im Redemanuskript von Nikolaus Landgraf, dem baden-württembergischen DGB-Chef, steht gar: „Empört Euch. Japan muss Folgen auch bei uns haben. Wir brauchen bei der Landtagswahl ein politisches Erdbeben, dessen Ausläufer noch in Berlin deutlich zu spüren sind.“

Im rund 45 Kilometer von Stuttgart entfernten Neckarwestheim nahmen die Atomkraftgegner den von ihnen geforderten Atomausstieg symbolisch selbst in die Hand. Sie zogen einen überdimensionalen Stecker und stöpselten ihn in ein Windrad. „Das Abschalten von Neckarwestheim war schon vor der Katastrophe in Japan angesagt“, sagte Kretschmann.

Ein Sprecher des von der CDU-Politikerin Tanja Gönner geführten baden-württembergischen Umweltministeriums kritisierte die Aktion: „Es ist schon erstaunlich, dass Menschen aus ganz Deutschland mit Bussen und Bahnen für die Menschenkette in Baden-Württemberg angefahren werden müssen.“ Es sei völlig unrealistisch, auf die Schnelle aus der Atomenergie auszusteigen. Und: „Man streut den Menschen Sand in die Augen, wenn der Eindruck erweckt wird, die Kernenergie könne kurzfristig durch erneuerbare Energien ersetzt werden.“ Im Laufe des Tages verschickte Ministerin Gönner allerdings eine Pressemitteilung, die etwas anders intoniert war. Neben „großer Anteilnahme und Sorge“ ist da zu lesen, dass jetzt zwar nicht vorschnell Laufzeitverlängerungs-Entscheidungen revidiert werden sollten. „Ebenso falsch wäre es aber, nun nach dem Motto ,Augen zu und durch’ zu verfahren.“ Ihr Chef, Ministerpräsident Stefan Mappus, tourte derweil mit dem Wahlkampf-Bus durchs Ländle.

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