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Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (Mitte) marschiert mit seinen Anhängern rund 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul.

© dpa

Marsch des türkischen Oppositionsführers: Auf dem Weg für Gerechtigkeit

Tausende marschieren mit dem türkischen Oppositionsführer von Ankara nach Istanbul – der Konflikt mit Präsident Erdogan scheint unausweichlich zu sein.

Er trägt bereits sein viertes Paar Schuhe, er trinkt eine Flasche Orangensaft am Tag und isst viel Reis und Nudeln, der Kohlehydrate wegen. Kemal Kiliçdaroglu hält immer noch durch. Seit drei Wochen ist der türkische Oppositionsführer mit seinen Anhängern zu Fuß unterwegs von Ankara nach Istanbul. 15 Kilometer am Tag schafft er bei seinem „Gerechtigkeitsmarsch“ in der Sommerhitze Anatoliens. Eine ziemliche Leistung für einen untrainierten 68-Jährigen.

Zum Unbehagen der Regierung beginnen auch Wähler des eigenen Lagers, die Willenskraft des „türkischen Gandhi“ anzuerkennen. Rund 100 Kilometer sind es noch bis Istanbul. Je näher die Metropole am Bosporus rückt, um so größer wird die Zahl jener, die sich am Marsch beteiligen. Mehr als 20 000 waren es am vergangenen Wochenende. Auch Nationalisten, Fans der Istanbuler Fußballklubs oder ein Wortführer der „antikapitalistischen Muslime“ reihten sich in den Marsch der Sozialdemokraten von der Republikanischen Volkspartei (CHP) ein.

Anhänger der prokurdischen Minderheitenpartei HDP wurden am Montag erwartet. Die kritische Phase des Protestmarsches hat begonnen. Polizisten laufen nun in einer langen Linie auf der Straße zwischen den Oppositionellen und den vorbeifahrenden Autofahrern, die hupen, manche aufmunternd, manche aggressiv. „Es gibt Gerüchte über Provokationen“, sagte Kiliçdaroglu bei der morgendlichen Ansprache vor den Mitmarschierern. Eine Kugel lag bereits auf dem Asphalt, als Warnung für den Parteichef.

Für die CHP sei dieser Marsch eine wichtige Erfahrung, sagt ein Istanbuler Anwalt, der aus Solidarität einige Kilometer mitmarschiert war: „Zum ersten Mal lernt diese Partei, dass sie für etwas protestieren muss.“ Denn politische Aktionen außerhalb des Parlaments sind für die sich immer noch staatstragend fühlende Partei des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk Neuland.

Präsident Erdogan und Regierung etikettieren den Oppositionsführer als "Terroristen"

Am Sonntag wollen die Kemalisten vor dem Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Maltepe auf der asiatischen Seite sein. Dort sitzt ihr Parlamentsabgeordneter Enis Berberoglu ein. Der frühere Chefredakteur des Massenblatts „Hürriyet“ ist im Vormonat zu 25 Jahren Haft wegen Spionage verurteilt worden; das Urteil in erster Instanz ist noch nicht rechtskräftig, aber das spielt unter den heutigen Umständen im Land schon keine Rolle mehr. Berberoglu sitzt bereits seine lange Strafe ab. Der Abgeordnete soll jenes Video weitergegeben haben, das türkische Gendarmen bei der Kontrolle einer der mutmaßlichen Waffenlieferungen des Staates an Rebellen in Syrien zeigte.

Der Marsch der türkischen Opposition soll Gerechtigkeit in diesem einen Fall erzwingen, aber auch eine gerechte Behandlung der mittlerweile 150 000 Beamten, die seit der Verhängung des Ausnahmezustands gefeuert, und der rund 50 000 Türken, die in Gefängnisse gesteckt wurden. Ob das gelingt, ist fraglich.

Der Zusammenstoß mit Recep Tayyip Erdogan, dem autoritär regierenden Staatschef, scheint unausweichlich. Präsident und Regierung etikettieren den Oppositionsführer als „Terroristen“. Kiliçdaroglus Verhaftung scheint denkbar, je nach Ausgang des „Gerechtigkeitsmarsches“. Am Montag ging der Präsident in die Offensive und kündigte den Bau eines Flugzeugträgers an. Den Jahrestag des vereitelten Putschs am 15. Juli will die Regierung groß feiern. Ihre Anhänger werden Demokratiewacht halten und wie nach dem Putsch Straßen und Plätze in den Städten besetzen. Für die Opposition ist dann dort kein Platz mehr.

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