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Politik: Auf zum letzten Gefecht

IG METALL IM OST-STREIK

Von Ursula Weidenfeld

Immer noch werden arbeitswillige Metallarbeitnehmer in Ostdeutschland in Bussen in die Werke gefahren. Immer noch werden sie von den Streikenden und von deren Unterstützern an den Werkstoren ausgepfiffen und beschimpft. Immer noch muss die IG Metall Unterstützer aus Westdeutschland schicken, weil in den Metallbetrieben in Sachsen, Brandenburg und Thüringen die Streikfront kaum noch zu halten ist.

Die Szenen erinnern an das England der Margaret Thatcher, an die letzten großen Kämpfe der Gewerkschaften, bevor deren Macht gebrochen wurde. Die IG Metall hat sich mit dem Arbeitskampf um die 35Stunden-Woche in Ostdeutschland freiwillig in eine Situation begeben, in der am Ende mehr verloren sein wird als nur ein Arbeitskampf. Denn neben der Tatsache, dass die IG Metall den Streikverlauf völlig falsch eingeschätzt hat, neben der Überraschung, dass die Arbeitgeberseite offenbar bereit ist, den Flächentarifvertrag einfach so aufzugeben, wird nun offenbar: Es gibt sie nicht mehr, die Arbeiterklasse, es gibt ihn nicht mehr, den Klassenkampf. Ausgerechnet bei einem Streik, der mit dem Kampfruf „Gleichheit!“ geführt wird, gelingt es der IG Metall nicht, sich als starke, selbstbewusste und kampfbereite Einheitsgewerkschaft zu präsentieren.

Die Metallarbeitnehmer sind zerfallen in Interessengruppen. Sicher, es gibt viele, die aus Überzeugung streiken. Weil sie die Gleichheit wollen, und weil sie es satt haben, sich als Arbeitnehmer zweiter Klasse zu fühlen. Nur, dass diese Gruppe, von der alle Arbeitskämpfe der IG Metall in West und Ost bisher bestimmt und getragen wurden, diesmal in der Minderheit ist. Den Streikbereiten stehen die Arbeitnehmer gegenüber, die aus Angst um ihren Arbeitsplatz nicht streiken wollen und lieber Urlaub nehmen. Die Streikfähigkeit wird relativiert von Beschäftigten, die längst Zugeständnisse gemacht haben, gegen die der Drei-Stunden-Arbeitszeit-Unterschied Kleinkram ist. Die Streik-Motive werden in Zweifel gezogen von Arbeitslosen, die bei den Großinvestitionen der Autoindustrie in Ostdeutschland auf einen neuen Job hoffen und nun fürchten müssen, dass die Standortvorteile der Ostdeutschen von Westdeutschen wegverhandelt werden. Der Arbeitskampf wird in Frage gestellt von westdeutschen Metallern, die nur mit Müh und Not und wachsendem Druck zu Solidaritätsaktionen zu pressen sind, wenn die Produktion wegen fehlender Zulieferungen aus dem Osten in Gefahr gerät. Am gravierendsten aber ist, dass gerade die streikbereiten und streikmächtigen Betriebe im Osten nach und nach aus der Streikfront ausscheren und Haustarifverträge abschließen – und damit für den Rest der Unternehmen den Druck zur Einigung senken.

Das alles ist schierer Sprengstoff für die IG Metall. Die mächtigste Gewerkschaft Deutschlands wirft einen Blick auf die eigene Basis und bekommt einen gewaltigen Schrecken. Zu heterogen sind die Interessen von Beschäftigten im Westen und Osten, in großen Unternehmen und kleinen Betrieben, in automobilnahen und autofernen Unternehmen, als dass der Streik in der Fläche erfolgreich zu Ende gebracht werden könnte. Erstmals in der Geschichte der Metallgewerkschaft eint der Arbeitskampf die Mitgliedschaft nicht. Er treibt sie auseinander. Die IG Metall ist in die Tarifauseinandersetzung gezogen, um die gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit durchzusetzen. Sie hat in der eigenen Mitgliedschaft einen Diskurs über das Thema Gleichheit provoziert, dessen Ergebnis für die Gewerkschaft niederschmetternd ist: Die Arbeitnehmer haben vielleicht schon lange geahnt, wie unterschiedlich sie tatsächlich sind. Jetzt haben sie es erkannt.

Ein scheinbar harmloser Streik in Ostdeutschland, ein scheinbar sicheres Spiel geht für die IG Metall verloren. Sie hat es fahrlässig angefangen, nun muss sie dafür kämpfen, es ohne dramatischen Gesichtsverlust zu Ende zu bringen. Wahrscheinlich wird es der Gewerkschaft gelingen, am Ende einen Vertrag abzuschließen, in dem die Zahl 35 in irgendeinem Zusammenhang geschrieben steht. Durchsetzen können wird sie diesen Vertrag jedoch kaum. Der Preis, den sie dafür zahlen muss, wird weit höher sein, als sie sich das jemals vorstellen konnte: Der IG Metall werden in diesen Tagen in Ostdeutschland nicht die Zähne gezogen. Sie hat sie sich selbst eingeschlagen.

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