zum Hauptinhalt
Update

Ausnahmezustand in Ägypten: Vizepräsident Mohamed el Baradei tritt zurück

Die Gewalt in Ägypten ist eskaliert. Am Morgen hat die Polizei in Kairo die beiden Protestlager der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi geräumt. Mindestens 149 kamen dabei um. Nun wurde eine Ausgangssperre verhängt. Vizepräsident el Baradei zieht nun Konsequenzen.

Der ägyptische Vizepräsident und Friedensnobelpreisträger Mohamed el Baradei hat nach den schweren Ausschreitungen am Mittwoch seinen Rücktritt eingereicht. Dies ging aus einem Brief an den Übergangspräsidenten hervor. Angesichts der blutigen Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi hat die Übergangsregierung für die Hauptstadt Kairo und zehn andere Provinzen eine Ausgangssperre verhängt. Die Ausgangssperre werde bis auf weiteres von 19 Uhr (Ortszeit und MESZ) bis um 6 Uhr morgens dauern, sagte ein Regierungssprecher am Mittwoch im Staatsfernsehen. Sie gilt demnach für Kairo, Gizeh, Alexandria, Beni Sueif, Menja, Assiut, Sohag, Beheira, Nord-Sinai, Süd-Sinai und Suez.

Mindestens 149 Menschen getötet und 1400 verletzt

Zuvor hatte der ägyptische Übergangspräsident Adli Mansur nach schweren Unruhen am Mittwoch für einen Monat den Notstand ausgerufen. Das berichteten die staatlichen Medien.Bei Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des vom Militär gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi sind nach offiziellen Angaben 149 Menschen getötet und mehr als 1400 verletzt worden. Unter den Toten seien sowohl Polizisten als auch Zivilisten. Um sieben Uhr am Morgen geht es los: Da lassen Militärhelikopter über dem Stadtzentrum von Kairo die lang gehegten Befürchtungen zur Gewissheit werden. Die Sicherheitskräfte haben damit begonnen, die beiden Lager der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in Rabaa al-Adawiya und auf dem Nahda-Platz vor der Kairoer-Universität aufzulösen.

Polizei setzt Bulldozer und Tränengas ein

Dort fahren sie mit schweren Bulldozern auf. Walzen die dutzenden Zelte nieder und vertreiben die Menschen mit Tränengas. Die Demonstranten reagierten mit dem Abbrennen von Autoreifen. Nach weniger als zwei Stunden melden die staatlichen Medien, der Nahda-Platz sei geräumt. Es hätte zahlreiche Verhaftungen gegeben von Demonstranten, die im Besitz von Waffen gewesen seien. Flüchtende werden im nahe gelegenen Zoo verfolgt. Alle Straßen, die zum Nahda-Platz führen, bleiben vom Polizei und Militär weiträumig abgesperrt. 

Hardliner setzen sich durch

Das Nahda-Camp war zwar das kleinere - jeweils einige Hundert harrten über Nacht aus -, aber das strategisch wichtigere, weil es sehr nahe am Stadtzentrum gelegen war. Die meisten der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Anhängern und seinen Gegnern hatten in den vergangenen sechs Wochen in dieser Gegend stattgefunden. Zum letzten Mal am Dienstagabend, als die Muslimbrüder in ganz Kairo mehrere Protestzüge veranstaltet hatten. Sie waren vor mehrere Ministerien in der Stadtmitte gezogen.

Einer ihrer Anhänger war erschossen worden. Diese Strategieänderung könnte der Zündfunke gewesen sein, dass Regierung und Sicherheitskräfte ihre seit Wochen angekündigte Räumungsaktion nun in die Tat umgesetzt haben. Die Vereidigung von neuen Gouverneuren am Dienstag, die wie zu Mubaraks Zeiten fast ausschließlich aus Militär und Polizei stammen, deutet zudem darauf hin, dass sich in der ägyptischen Übergangsführung jene Kreise durchgesetzt haben, die für eine harte Haltung gegenüber den Islamisten eintreten.

Die Lager waren zu einer kleinen Stadt geworden

Im Protestcamp Rabaa al-Adawiya im Vorort Nasr City ist die Lage komplizierter. Dort haben sich viele tausend Mursi-Anhänger seit sechs Wochen eingerichtet. Raaa al-Adawiya ist zu einer kleinen Stadt geworden, aus der sich die Demonstranten, darunter viele Frauen und Kinder, auch unter Waffengewalt nicht vertreiben ließen. Einpeitscher auf der Bühne schrieen: „Wir sind Ägypter, wir sind Muslime, wir sind keine Terroristen, aber die Armee tötet uns“.  Dieses Camp ist die wichtigste Bastion der Muslimbrüder. Hier haben sich mehrere jener Führungskader verschanzt, die nach dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten am 3. Juli noch nicht verhaftet wurden.

In Alexandria und mehreren Städten Oberägyptens kam es zu ersten Solidaritätskundgebungen.

Das Innenministerium ließ wissen, es gebe Korridore über die jene Demonstranten, die freiwillig den Platz verlassen wollten, ungehindert abziehen könnten. Ihnen wurde auch zugesagt, dass sie nicht verfolgt würden. Die Demonstranten zeigten aber keine Bereitschaft, auf den friedlichen Protest, den sie als demokratisches Recht einfordern, zu verzichten. Das sei ein blutiger Versuch, jede Stimme gegen den Militärputsch auszulöschen, twitterte Jihad Haddad, einer der Sprecher der Muslimbrüder. Die „Allianz zur Unterstützung der Legitimität“ rief die Mursi-Anhänger auf, die Proteste direkt zu unterstützen oder sich in die großen Moscheen zu begeben, um das „Massaker zu stoppen“. In Alexandria und mehreren Städten Oberägyptens kam es zu ersten Solidaritätskundgebungen.

Brutaler Polizeieinsatz

Die Sicherheitskräfte gingen mit großer Brutalität gegen die Demonstranten vor. Es gab Tote und Verletzte, deren Zahl aber nur schwer abzuschätzen ist. Jede Seite veröffentlichte ihre eigenen Angaben. Das Innenministerium meldete zwei tote Polizisten. Die Muslimbrüder berichteten bereits im Laufe des Morgens von weit über zwei hundert Toten und mehreren Hundert Verletzten.

Die Auseinendersetzungen breiteten sich im Laufe des Tages auf ganz Ägypten aus: Auf dem Sinai stürmten bewaffnete Männer mehrere öffentliche Gebäude. In Oberägypten griffen Islamisten nach Darstellung christlicher Aktivisten drei Kirchen an. In der Innenstadt der Touristenstadt Luxor protestierten rund 300 Demonstranten gegen die Polizeigewalt. Das Innenministerium ordnete die Einstellung des Zugverkehrs von und nach Kairo an, offensichtlich um die Bewegungsfreiheit von Protestgruppen einzuschränken. Damit kam der Zugverkehr im Lande weitgehend zum Erliegen.

Der Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Kairo, Joachim Schroedel, sprach am Mittwoch von einer „unübersichtlichen“ Situation. Es herrschten „bürgerkriegsähnliche Zustände“, sagte Schroedel, dessen Gemeindezentrum in der Innenstadt unweit dem Tahrir-Platz liegt, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Der Sprecher der katholischen Bischofskonferenz in Ägypten, Antoine Rafic Greiche, sagte, Zahlen von mehr als 100 getöteten Anhängern des entmachteten Präsidenten Mohammed Mursi seien übertrieben.

Westerwelle ruft zum Dialog auf

Ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP hatte erklärt, er habe selbst 43 Leichen gezählt. Die Ärzte und Helfer in dem notdürftig eingerichteten Feldspital in Rabaa al-Adawiya waren völlig überfordert. Augenzeugen beschrieben in lokalen Medien auch vom Einsatz von scharfer Munition, den die Sicherheitskräfte stets verneinten. In den Wochen seit dem Sturz Mursis waren bereits über 250 Todesopfer gezählt worden.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat Anhänger und Gegner des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi zu einem Ende der Gewalt und zu einer friedlichen Lösung der Krise aufgefordert. “Wir appellieren an alle politischen Kräfte, umgehend zurückzukehren zum Dialog und zu Verhandlungen“, sagte Westerwelle. (mit AFP, dpa, Reuters)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false