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Außenminister Sigmar Gabriel (SPD)

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Außenminister Sigmar Gabriel: Wir müssen das Friedenspotenzial der Religionen fördern

Wer Religion stets nur als konfliktverschärfend sieht, macht einen großen Fehler. Der interreligiöse Dialog muss Teil einer neuen Außenpolitik der Gesellschaften sein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sigmar Gabriel

Palmyra liegt in Trümmern, weil der sogenannte Islamische Staat die Erinnerung der Menschen in Syrien an eine jahrtausendealte kulturelle Identität zerstören will. Boko Haram führt seit Jahren im Nordosten Nigerias einen blutigen Feldzug, um ein islamisches Kalifat zu errichten. In Myanmar wird die muslimische Minderheit der Rohingya verfolgt. Von Paris bis Berlin haben Attentäter im Namen der Religion schändliche Anschläge verübt.

All diese Beispiele zeigen, wie politische und wirtschaftliche Konflikte pseudoreligiös aufgeladen werden und wie Religion als reines Feigenblatt benutzt wird. Das droht zu überdecken, welche positive Kraft in Religionen steckt: die Überwindung der Angst, das Vertrauen auf die Barmherzigkeit und die Weitergabe dieser Barmherzigkeit an den Nächsten. Religionen bewahren ein tiefes Wissen um Schuld, Vergebung und Versöhnung. Religionsgemeinschaften können für Ausgleich und Gerechtigkeit in ihren Gesellschaften eintreten. Sie haben ein langes Zeitverständnis, das etwa in der Friedensarbeit notwendig ist. Und sie machen an den Grenzen der Nationalstaaten nicht halt.

Welche Verantwortung übernehmen Religionsgemeinschaften?

Wenn wir am 22. Mai über einhundert Vertreterinnen und Vertreter des Judentums, des Christentums und des Islam sowie weiterer Religionen aus Europa, aus dem Mittleren und Nahen Osten und aus Nord- und Westafrika im Auswärtigen Amt zu Gast haben, dann ist dies ein Novum. Erstmals führen wir einen engen, langfristig ausgerichteten Dialog mit Religionsvertretern aus aller Welt und fügen unserer Außenpolitik der Gesellschaften einen weiteren Baustein hinzu.

Welche Verantwortung übernehmen Religionsgemeinschaften und Religionen in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen? Welche best practices insbesondere im sozialen Engagement, in der Fürsorge, Erziehung und Friedensarbeit bestehen? Wie kann das Friedenspotenzial der Weltreligionen noch besser genutzt werden? Welche positiven Beispiele für den Einsatz von Religionsgemeinschaften bei der Konfliktprävention, Mediation und Versöhnungsarbeit gibt es? Welchen Platz nimmt interreligiöse Friedensarbeit ein? Wie stark ist die Stimme der Religionen im öffentlichen Diskurs? Dies sind nur einige der Fragen, die wir intensiv diskutieren wollen.

Religion hat großen Einfluss auf Gesellschaft und Politik

Fest steht: Religion hat großen, weltweit steigenden Einfluss auf Gesellschaft und Politik. Dies kann ich nach wenigen Monaten als Außenminister auch aus den Erfahrungen meiner Gespräche und Reisen bestätigen. Fest steht aber auch: Religion polarisiert und wird verantwortlich gemacht für Rückschrittlichkeit und Fanatismus, für Gewalt und sogar für Terror. Wer allerdings nur das Stereotyp pflegt, dass Religion stets konfliktverschärfend wirkt, begeht aus meiner Sicht einen großen Fehler.

Wir wollen mit unserer Initiative daher bewusst auf das Friedenspotenzial der Religionen und auf ihre Verantwortung für den Frieden in den Gesellschaften schauen. Denn das ist die „Zumutung“, die wir an die Religionsgemeinschaften richten möchten. Deshalb bringen wir Priester, Rabbiner und Imame aus der ganzen Welt im gleichen Raum zusammen. Es geht uns dabei nicht um eine Religionsfreiheitskonferenz und auch nicht um religiöse Fachfragen, sondern um das gesellschaftliche Potenzial der verschiedenen Religionen in ihren Regionen.

Öffnung unserer Außenpolitik für mehr Impulse aus der Zivilgesellschaft

Wir fangen dabei nicht komplett bei null an. Schon heute unterstützen wir zum Beispiel die katholische Laienbewegung Sant'Egidio im Friedensdialog in Mosambik, wo Religionsgemeinschaften über einen guten Zugang verfügen, der es ihnen erlaubt, ganz konkrete Verhandlungslösungen für die Beendigung von Gewalt zu finden. Wir arbeiten auch mit der muslimischen Dar al Fatwa und den Friedensforschern der Berghof-Stiftung und unterstützen einen innersunnitischen Dialog zur Verhinderung von Radikalisierung im Libanon. In Nigeria versuchen wir zusammen mit dem Centre for Humanitarian Dialogue zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungsgruppen zu vermitteln.

Die Perspektive der Kirchen und Religionsgemeinschaften erweitert unsere außenpolitischen Analyse- und Handlungsmöglichkeiten, sie ist Teil der kulturellen Intelligenz, die wir brauchen, wenn wir die Träume und Traumata anderer Gesellschaften verstehen wollen. Wir streben deshalb über die Konferenz hinaus ein Netzwerk an, das zugleich als eine Art Frühwarnsystem und Ausgangsbasis für Gespräche vor Ort dienen könnte.

Diese Öffnung unserer Außenpolitik für mehr Impulse aus der Zivilgesellschaft ist auch Teil der strategischen Neuausrichtung unserer Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik seit Beginn dieser Legislaturperiode – weg von einer Außenpolitik zwischen Staaten und hin zu einer Außenpolitik der Gesellschaften. In einer Welt voller pseudoreligiös aufgeladener Konflikte ist sie wichtiger denn je.

Der Autor ist Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland.

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