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Politik: Bei den Vorwahlen in den wichtigsten Bundestaaten zieht es auch viele Demokraten zum Republikaner McCain

Bei einer Tasse Schwarztee gesteht Mery Grace Castelo ihre Sünden. "Ich habe meine Hausaufgaben noch nicht gemacht", meint die 39-jährige Lehrerin aus Kalifornien.

Bei einer Tasse Schwarztee gesteht Mery Grace Castelo ihre Sünden. "Ich habe meine Hausaufgaben noch nicht gemacht", meint die 39-jährige Lehrerin aus Kalifornien. "Ich weiß nur, was ich suche. Ich bin bereit, für einen Kandidaten zu stimmen, mit dem ich in der einen oder anderen Sachfrage nicht übereinstimme, wenn ich nur die Gewähr dafür habe, dass er nicht wie Clinton ein Schuft ist. Ich wähle den, der am wenigsten wie ein Lügner aussieht."

Und so will Mery Grace Castelo am heutigen Dienstag, wenn sie noch ein paar Artikel gelesen hat, für den Republikaner John McCain stimmen. "Obwohl ich Demokratin bin", wie sie hinzufügt. Die Lehrerin, die an der exklusiven Privatschule "Crossroads" in Santa Monica unterrichtet, ist nicht allein. Amerika ist voller Bürger, die sich über sich selbst wundern. "Ich habe noch nie Republikaner gewählt, aber am Dienstag stimme ich für McCain" - solche Geständnisse sind derzeit allerorts zu hören.

Die breite Unterstützung für McCain aus der politischen Mitte ist das überragende Phänomen dieses Vorwahlkampfes. "McCainiacs" werden die Unterstützer des Vietnam-Kriegshelden genannt - ein "maniac" ist ein verrückter Draufgänger. Der Senator aus Arizona ist der glaubwürdigste Anti-Clinton, ist Reformer und Protestkandidat. Er ist die neueste Inkarnation der Suche nach Wahrheit und kraftvoller Führung, und er steht zugleich in der Tradition von Außenseitern wie Ross Perot, dem Präsidentschaftskandidaten der Reformpartei von 1992 und 1996, von der Sehnsucht nach einer Kandidatur des Golfkriegs-Helden Colin Powell oder vom Erfolg Jesse Venturas, der 1998 zum Gouverneur von Minnesota gewählt wurde.

Heute geht es für McCain, Bush, Gore und Bradley um Alles. Ein Drittel der Delegierten für die Nominierungsparteitage im Sommer wird vergeben, wenn die Wähler in den Riesen-Bundesstaaten Kalifornien und New York, in den meisten Neuengland-Staaten, in Georgia, Missouri und in Ohio an die Urnen gehen. Jeder US-Bundesstaat hat seine eigenen Regeln. In Kalifornien gibt es einen einheitlichen Wahlzettel. Neben den Namen von mehreren Grünen, Libertären und Naturgesetz-Parteilern sind die Namen der vier Spitzenkandidaten vergraben. Jeder kann sein Kreuzchen machen, wo er mag - für die Vergabe der Delegierten der GOP, der "Grand Old Party", entscheidet indes allein das Votum jener, die eingetragene Wähler der Republikaner sind.

Bei denen könnte Bush gewinnen, selbst wenn McCain dank seiner Unterstützung durch Unabhängige und Demokraten insgesamt vorne liegt. Diese Doppelung der Wahl ist keine Haarspalterei, sondern entscheidend für McCains Strategie. Schließlich behauptet der Senator, der Ideal-Kandidat für den Herbst zu sein, also gegen Gore die besseren Chancen zu haben und in den ganzen USA mehrheitsfähig zu sein. Sollte Bush unter den registrierten Republikanern gewinnen, McCain aber den Sieg beim als "beauty contest" bezeichneten Votum aller Wähler davontragen, könnten sich beide feiern lassen.

McCain hat die besten Chancen an der Ostküste - in Neuengland. In New York kam der Senator erst auf die Stimmzettel, nachdem die Bush-Kampagne auf die Benutzung archaischer Sperrklauseln verzichtet hatte, die es Favoriten leicht machen und von Herausforderern Unterschriftenlisten von Unterstützern in jedem Wahlkreis verlangen. Die "New York Times", die sich am Sonntag per Leitartikel für Gore und McCain aussprach, hatte dies als "zutiefst undemokratisches Verfahren" gegeißelt.

In Kalifornien sind die hunderttausenden Exil-Vietnamesen die überzeugtesten McCain-Anhänger. Sie haben es ihrem Helden auch nachgesehen, dass er das Schimpfwort "gook" für seine nordvietnamesischen Bewacher im Kriegsgefangenenlager verwendet hat. McCains Erfolgsrezept von seinem Sieg bei der ersten Vorwahl in New Hampshire ließ sich dagegen an der Westküste schwer umsetzen. Im Bus namens "Straight Talk Express" zu Ortsversammlungen durchs Land zu tingeln, geht in Kalifornien nicht Flächen deckend.

Bradley hat den Dienstag als seinen "Start-Tag" bezeichnet. Seine Umfrage-Werte sind indes mies. In Kalifornien liegt er kaum vor Alan Keyes, dem letzten republikanischen Rechten. Bleibt Bradley weiter sieglos, dürfte er sich bald zurückziehen, spekuliert Clintons ehemalige Pressesprecherin Dee Dee Myers. Im Gore-Lager wird ein großer Triumph erwartet, eventuell ein Sieg in jedem Bundesstaat, womit Gore dann zwei Drittel der nötigen Delegiertenstimmen beisammen hätte. Sollte innerhalb der Republikaner dieser Dienstag noch keine Klarheit bringen, folgt schon am 14. März der nächste Großkampftag. Dann stimmen Texas, Florida und die meisten Südstaaten ab - der traditionelle "Super Tuesday", ehe Kalifornien und andere Staaten ihre Wahltermine vorverlegten.

Eine Kalifornierin, die ihr Votum bereits abgegeben hat, ist die 75-jährige Mary Lou Brueggemann. Die Rentnerin aus Pasadena hat per Briefwahl ihr Kreuzchen hinter den Namen von George W. Bush gemacht. "Warum ich das getan habe, weiß ich auch nicht so recht. Wahrscheinlich wäre McCain besser gewesen", gesteht sie. Ihr Sohn Mark und dessen Frau Julie sind, anders als Mary Lou Brueggemann, eingetragene Demokraten. "Von Gore und Bradley bin ich nicht sonderlich beeindruckt", meint Mark Brueggemann, ein Internet-Unternehmer, der gerade eine Webpage zum Verkauf von Gebrauchtwagen aufbaut. "Wahrscheinlich stimme ich für McCain." Julie Brueggemann ist unter den Stammwählern der Demokraten die einzige aus der ganzen Familie, die für Gore oder Bradley votieren will. "Entschieden habe ich mich aber noch nicht."

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