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Frau mit Kopftuch am Brandenburger Tor

© Wolfgang Kumm/dpa

Berlins Neutralitätsgesetz: Ein Aufstand säkularer Fundamentalisten

Ein breites Bündnis kämpft für die Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetzes. Dessen Mitglieder stellen ihre Werte über die der Verfassung. Ein Kommentar.

Berlins Neutralitätsgesetz ist verfassungswidrig. Es verbietet Lehrern sowie Beamten, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei beschäftigt sind, das Tragen auffallender religiöser Symbole wie Kopftuch, Kreuz oder Kippa. Das verletzt das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit.

Vor drei Jahren haben die Richter in Karlsruhe unmissverständlich festgestellt: Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, „von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben“. Wenn der Gesetzgeber dennoch die Grundrechte etwa von Lehrern an öffentlichen Schulen einschränkt, muss er die konkrete Gefahr, die dadurch für den Schulfrieden ausgeht, belegen und begründen. „Das Tragen eines islamischen Kopftuchs begründet eine hinreichend konkrete Gefahr im Regelfall nicht.“

Mit seinem Beschluss von vor drei Jahren hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003 präzisiert. Damals vermieden die Richter eine Entscheidung in der Sache und reichten die Kopftuchfrage an die Länder weiter. Doch auch damals betonten sie, dass ein allgemeines Kopftuchverbot in das Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt sowie in das Grundrecht der Glaubensfreiheit massiv eingreift.

Aus den unterschiedlichen Akzenten, die der Erste und Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts setzen, einen Gegensatz abzuleiten und die Bindungswirkung der Staatsorgane an die Urteile zu bestreiten, ist Unfug. Dennoch hat dies der religionskritische, im Jahr 2001 vorzeitig pensionierte bayerische Verwaltungsjurist Gerhard Czermak in einem Gutachten versucht. Im ersten Verfassungsgerichtsurteil war eine gesetzliche Regelung angemahnt worden. Im zweiten Urteil wurden jene Regelungen, die zu streng gefasst worden waren, als verfassungswidrig erkannt. Das zweite Urteil baut auf dem ersten auf und präzisiert es. Ein Neutralitätsgesetz ist demnach nicht an sich verfassungswidrig, es ist es aber dann, wenn eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens nicht nachgewiesen wird.

Der Weg in die Emanzipation wurde eher erschwert als erleichtert

Kein namhafter Jurist bezweifelt die Verfassungswidrigkeit des Berliner Neutralitätsgesetzes in seiner derzeitigen Form. Die Experten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes des Abgeordnetenhauses kamen im Sommer 2015 in einem Gutachten ebenfalls zu dem Ergebnis, dass ein generelles Kopftuchverbot nicht verfassungskonform sei. Auch Ehrhart Körting, der im Jahr 2005 als Innensenator von Berlin maßgeblich verantwortlich war für das Neutralitätsgesetz, meint, dieses Gesetz müsse im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts neu gefasst werden. Außerdem sieht er dessen Wirkung heute kritisch. Vielen muslimischen Frauen habe das Gesetz den Weg in die Emanzipation eher erschwert als erleichtert.

Doch in Berlin herrscht das alte Sponti-Motto legal, illegal, ganz egal. Ein Bündnis aus Religionskritikern, Islamkritikern, Humanisten, Feministinnen und Pädagogen setzt sich für die Beibehaltung des Neutralitätsgesetzes ein. Das wirkt wie eine Fundamentalisierung falsch verstandener Säkularität. Von Migranten wird zwar oft und gern ein Bekenntnis zu den Werten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlangt. Sich selbst indes nehmen die Mitglieder der Initiative „Pro Berliner Neutralitätsgesetz“ offenbar davon aus. Wie in einer Parallelgesellschaft kämpfen sie für den Fortbestand eines verfassungswidrigen Gesetzes. Sie stellen ihr eigenes Wertesystem über das unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Folge davon? Ständig werden nun Entschädigungen an Klägerinnen gezahlt, die wegen ihres Kopftuches als Lehrerinnen abgelehnt worden waren. Ein grotesker Zustand.

Zeit für eine große ökumenische Erklärung

Deutschland hat kein laizistisches Verständnis der Trennung von Staat und Kirche wie etwa Frankreich. Der Staat selbst muss in religiösen Dingen neutral sein, ist aber den Religionen gegenüber offen und zugewandt. Die Bürger, ob religiös, areligiös oder antireligiös, werden in ihren Haltungen geschützt und respektiert. Das gilt auch für Lehrerinnen und Lehrer. Denn Schulen sind ein Spiegel der religiös-pluralistischen Gesellschaft, sie sind nicht nur ein Lern- sondern auch ein Lebensort.

Berlins Neutralitätsgesetz beeinträchtigt die Grundrechte aller Gläubigen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass jüdische Gemeinde, islamische Verbände und christliche Kirchen gemeinsam ihre Stimme erheben, um für die Glaubensfreiheit zu streiten. In einer großen ökumenischen Erklärung könnten sie daran erinnern, dass eine radikale Verdrängung aller religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum diskriminierend und widerrechtlich ist.

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