zum Hauptinhalt

Politik: Bilanz der Kanzlerreise: Nur spontan - und ganz privat (Gastkommentar)

Der Kanzler benötigte eine Viertelstunde, um die kleine Pflichtübung zu vollenden. Gerhard Schröder legte im Stadtpark von Dessau einen Kranz mit Blumen nieder - vor dem Gedenkstein für Alberto Adriano, den Mozambiquaner, den drei Skinheads am 11.

Der Kanzler benötigte eine Viertelstunde, um die kleine Pflichtübung zu vollenden. Gerhard Schröder legte im Stadtpark von Dessau einen Kranz mit Blumen nieder - vor dem Gedenkstein für Alberto Adriano, den Mozambiquaner, den drei Skinheads am 11. Juni dort brutal zu Tode geprügelt hatten. "Eine spontane Geste, die der Kanzler dem Toten privat erweisen wollte; deshalb wurde die Presse nicht vorab informiert", sagt das Kanzleramt.

War es also reines Berufsglück, dass eine kleine Schar von Journalisten den ach so diskreten Kanzlers doch aufspürte und diesen ganz privaten Moment für das Fernsehen verewigen konnte? Und was die Spontaneität angeht: Kam sie nicht nach einer zu langen Bedenkzeit? Warum haben sich weder der Kanzler des vereinten Deutschlands noch der Bundespräsident dem Trauerzug angeschlossen, der einige Tage nach Alberto Adrianos Tod durch Dessau ging? Das war kurz vor dem Beginn der Ferienzeit. Die Bilder eines Kanzlers im Glück habe ich noch gut im Gedächtnis. Die Steuerreform war auf gutem Weg. Gerhard Schröder führte die Umfragen an. Mallorca lockte mit Urlaub. Wer fährt da schon nach Dessau ...

Es ist kein Geheimnis, im Kanzleramt wurde das Für und Wider der Kranzniederlegung gewogen. Wenn Schröder sich an den Tatort begibt, würde er damit Schwäche zeigen - als einer, der dem Druck antirassistischer Organisationen nachgibt? Riskierte er nicht den Eindruck, er verdamme den Rassismus im Osten stärker als den im Westen und vertiefe die Spaltung der Nation unnötigerweise kurz vor dem zehnten Jahrestag der Einheit?

Die politische Klasse hat mehrfach mit Absicht die populistischen Stimmungen geschürt, hat also eine Mitverantwortung für die latente Fremdenfeindlichkeit. Warum ist sie nicht fähig zu einer symbolischen, einer emotionalen, einer mutigen Geste - spontan, ohne kalkulierenden Blick auf die Wähler und ohne Sorge um ihr Image? An Gelegenheiten dazu mangelte es nicht, weder in diesem Sommer noch zuvor. Als im Herbst 1992 eine Welle rassistischer Gewalt durch Deutschland ging und fast die gesamte politische Klasse die Einschränkung des Asylrechts forcierte, fragte mich meine Pariser Heimatredaktion fast täglich: Warum ist Helmut Kohl noch nicht an den Tatorten aufgetaucht? Warum schließt er sich nicht den Straßenprotesten gegen die Gewalt an? Warum bedurfte es Richard von Weizsäckers Appell, ehe das Bonner Establishment - Ausnahme: CSU - an einer Demonstration in Berlin teilnahm?

Und heute? Warum demonstrieren Johannes Rau und Gerhard Schröder nicht in Berlin, Düsseldorf und Dessau? Und was werden die Themen im Herbst sein: Rentenreform und Ladenschlussgesetz - weil sich das bei den Wählern auszahlt? Oder der alltägliche Rassismus, der einem in Dessau in die Augen springt? In einer Stadt, in der 1998 13 Prozent für die DVU gestimmt haben, würde es Wahlchancen mindern, offen gegen Fremdenfeindlichkeit aufzutreten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false