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Politik: Bilaterale Historikerkommission: Das einstige "Zurück nach (West-)Europa" ist inzwischen einer "Rückkehr zum Realismus" gewichen

"Zurück nach Europa". So hieß die Parole im westlichen Vorhof des abdankenden Sowjetimperiums unmittelbar nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen vor knapp zehn Jahren.

"Zurück nach Europa". So hieß die Parole im westlichen Vorhof des abdankenden Sowjetimperiums unmittelbar nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen vor knapp zehn Jahren. Mit besonders starker Euphorie war diese plakative Zielrichtung in der damaligen Tschechoslowakei verbunden, deren Bürger sich in den vorangegangenen vier Jahrzehnten selbst gerne als von der Moskauer Übermacht mit Gewalt in den barbarischen Osten entführte Westler empfanden. Alle Wege schienen plötzlich offen zu sein, Probleme aus der Vergangenheit, die die lichte Zukunft belasten könnten, sah man kaum. So war es auch mit den deutsch-tschechischen Beziehungen. Deren Schattenseiten, vor allem den nationalsozialistische Terror und die anschließende Vertreibung der Sudetendeutschen, wollte man in die Vergangenheit verbannen. Der frisch gewählte Dissidenten-Präsident Vaclav Havel reiste als erstes nach Deutschland und entschuldigte sich für die gewaltsame Deportation der einstigen deutschen Mitbürger. Bald danach riefen die beiden damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Jiri Dienstbier die Deutsch-tschechische Historikerkommission ins Leben, die eine gemeinsame Sprache für die wunden Punkte der Geschichte finden sollte.

Am Wochenende präsentierte die Kommission erstmals ein Gesamtbild ihrer neunjährigen Arbeit vor den Medien. Doch bei dem von der Robert Bosch Stiftung geförderten Journalistenseminar im pfälzischen Deidesheim wurde eher eine ernüchternde Bilanz gezogen. Auch wenn sich die beiden Ko-Vorsitzenden, der Deutsche Hans Lemberg und der Tscheche Jan Kren, alle Mühe gaben, die für die Politik wegweisende Rolle der regierungsunabhängigen Kommission hervorzuheben, ein Ende des bilateralen Disputs war nicht in Sicht. Vielmehr wurde offenkundig, dass die Kontroverse etwa über die Vertreibungsfolgen selbst in der Kommission noch nicht ausgestanden ist. Man habe die Streitpunkte offen gelegt (Lemberg), es gebe vielfach einen Minimalkonsens (Kren). Dazu zähle etwa die Feststellung, dass die von der Sudetendeutschen Landsmannschaft vorgegebene Zahl der Vertreibungsopfer von 250 000 auf etwa 25 000 korrigiert worden sei. Dabei wolle man aber keine makabre Zahlenpolitik betreiben, jedes Opfer sei eins zu viel.

Trotz der übervorsichtigen Behutsamkeit, mit der sich die Historiker den in den jeweiligen nationalen Gesellschaften kontroversen Themen nähern, ecken sie immer wieder an. Kren bestätigte, dass der Kommission in Tschechien zur Zeit sogar ein "zunehmend scharfer Gegenwind ins Gesicht" wehe. Der Grund sei vor allem die Angst vor einer Debatte über die sogenannten Benesch-Dekrete. Diese Anordnungen des früheren tschechoslowakischen Präsidenten, mit der 1945 unter anderem die kollektive Bestrafung der Sudetendeutschen begründet wurde, stehen im Mittelpunkt eines bilateralen Rechtsstreits. Jetzt gewann dieser jedoch zusätzlich an Brisanz, weil das Europaparlament die endgültige Abschaffung der völkerechtswidrigen Dekrete im Zusammenhang mit der tschechischen Bewerbung um eine EU-Mitgliedschaft verlangt. Prag fürchtet erneut mögliche Entschädigungsforderungen und spielt auf Zeit. Dass in diesem Zusammenhang einige tschechische Historiker-Kollegen die inzwischen als Konsens geltende kritische Haltung zur Vertreibung von der eigenen Gesellschaft lieber opportunistisch versteckten, bezeichnete Kren als "schlichte Dummheit". Die Tatsache, dass die Vertreibung auch nach dem Willen der alliierten Siegermächte geschah, wie der frühere deutsche Ko-Vorsitzende der Kommission, Rudolf Vierhaus, hervorhob, entbinde niemand von der Verantwortung.

Für eine schonungslose Abrechnung mit den Illusionen der Wendezeit sorgte schließlich der ehemalige Exiltscheche Peter Robejsek vom Hamburger Institut für Politik und Wissenschaft. Das einstige "Zurück nach (West-)Europa" sei inzwischen einer "Rückkehr zum Realismus" (nach Frankreichs Ex-Regierungschef Balladur) gewichen. Die "essayistische Politik" mit Begriffen wie "Gemeinsames Europäisches Haus" oder "Friedensdividende" sei zehn Jahre später "gänzlich normalisiert" worden. Es sei eine bleibende Tatsache, dass die großen und stärkeren Staaten ihre Macht gegenüber den Kleineren ausspielten. Nicht zuletzt sei es auch bei der EU-Osterweiterung so, bei der die mächtigen Mitglieder darüber entscheiden, ob das Handeln der schwachen bisherigen Außenseiter "angemessen" oder "richtig" sei. Dies müsse ohne Emotionen zur Kenntnis genommen werden und es gelte auch für die vielfach bemühte "Asymmetrie" zwischen dem kleinen Tschechien und dem großen deutschen Nachbarn. Die kleinen Staaten hätten die Chance, ihre "negative Prädisposition" mit einfallsreicher Diplomatie und mit einem "aggressiven Marketing" ihrer Außenpolitik zu überwinden. Die mit sich selbst beschäftigte und zum Provinzialismus neigende tschechische Politik habe aber diesbezüglich bislang versagt.

Alexander Loesch

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