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Wie soll Schule aussehen? Darüber streiten die Geister.

© Holger Hollemann/dpa

Bildung: Schule ist keine Lehrlingsfabrik

Die Durchkommerzialisierung aller Lebensbereiche ist ein Indiz dafür, dass der Gesellschaft jeglicher Idealismus abhandenkommt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Naina twittert wieder. Kürzlich schrieb sie über „Mama’s Kleiderschrank“.

Die Gymnasiastin Naina, die Gedichte in mehreren Sprachen analysieren kann, aber nichts über Miet- oder Versicherungsverträge weiß, die diese Information im Tonfall des Vorwurfs verbreitete, damit eine aufgeregte bundesweite Debatte auslöste und daraufhin eine Twitterpause ankündigte.

„Mama’s Kleiderschrank“ also. Diesen falschen Apostroph könnte man noch viel mehr als Beleg für disparate Lernziele werten als nicht geklärte Mietvertragsfragen von Schülern, die noch bei ihren Eltern wohnen. Aber was soll das kleingeistige Herumreiten auf Rechtschreibregeln, ist das überhaupt noch wichtig?

Nainas Miet-Tweet löste eine Debatte über den Schulunterricht aus

An Nainas Miet-Tweet schloss sich eine Debatte um Schulunterricht an, ob man ein Fach namens Wirtschaft brauche, und vielleicht eine Programmiersprache statt Latein, spricht doch eh keiner! Diese Miet-Tweet-Exegese wurde schnell als „Bildungsdebatte“ verschlagwortet, dabei war es eher eine Diskussion um Schulfächer. Eine Debatte über Bildung wäre aber mal nötig – bevor sie unkommentiert weiter in die Richtung stolpert, in die sie unterwegs ist: Richtung Kommerzialisierung.

Basics statt Latein, Wirtschaft statt Kunst – Unternehmer applaudieren sicher freudig, wenn sie solcherlei hören, es kam zuletzt aus dem Mund des SPD-Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel, der kürzlich bemerkte, dass es zu seinen Schulzeiten das Fach „Ökonomische Bildung“ gegeben habe, was „ein großes Glück“ gewesen sei, wie er rückblickend urteilte.

Wie weit entfernt ist Deutschland mittlerweile vom Humboldt'schen Bildungsideal?

Jedoch ist Deutschland nicht nur das seltsame Land, in dem von Gabriels mitregierender SPD nahezu parallel die Rente mit 63 durchgesetzt und der (dadurch natürlich verschärfte) Fachkräftemangel beklagt wird, es ist auch das großartige Land von Wilhelm von Humboldt, und der dachte Bildung ganz anders. Groß und umfassend dachte er sie, nicht klein und verwertungsbezogen wie heute. Er dachte sie als Summe aus Kenntnissen und Charakter. Weil das eine ohne das andere zu wenig ist. „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen“, schrieb Wilhelm von Humboldt in einem Brief an König Friedrich Wilhelm III., der ihn zum Bildungsminister gemacht hatte, „und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf“.

Und will man ihm nicht sofort lebhaft zustimmen, wenn man vor ein paar Tagen hier im Tagesspiegel gelesen hat, dass in Reinickendorf vier junge Männer einer Mutter ihren Kinderwagen samt darin liegendem Baby geraubt und erst gegen Zahlung von Lösegeld zurückgegeben haben? Was soll man sagen über den Bildungsgrad dieser Männer? Was würden deren mögliche Rechenkünste zählen im Angesicht der demonstrierten Form von Unbildung im Menschlichen? Wenig bis nichts. Darin hat sich Humboldt – dessen Reihenfolge war: erst die Herzensbildung, dann das Wissen – bis heute bewährt. Aber sonst?

Lernen im Hörsaal "Aldi Süd"

Humboldt ging es um die „Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“, zusammengefasst wird das gerne als: Man wird nicht gebildet, man bildet sich selbst. Dazu muss man natürlich etwas wissen wollen. Und hapert es nicht daran schon? Man kann den Miet-Tweet als „Ja“ lesen. Er liest sich im Ton einer Einforderung: Hey, bringt mir doch mal andere Kenntnisse. Von Lernenwollen keine Spur. Damit allein erweist sich der Bildungsversuch an dieser Schülerin im Humboldt’schen Sinne als fehlgeschlagen. Oder ist vielleicht die Zeit über seine Ideen längst hinweg? Sie sind inzwischen ja immerhin gut 200 Jahre alt. Ist es gar nicht schlimm, wenn Bildung hauptsächlich auf jobmäßige Verwertbarkeit ausgerichtet wird? Sollte sie idealerweise so sein? Schule als Lehrlingsfabrik und Universität als steuerfinanzierte Berufsausbildungsstätte für komplexere Tätigkeiten?

Schon sitzen die ersten Studenten in gesponserten Hörsälen mit Namen wie „Aldi Süd“ (FH Würzburg) oder „easycredit“ (Universität Erlangen-Nürnberg). Den Schülern von heute wird das später mal so normal vorkommen, wie Basketballfans heute in Berlin wie selbstverständlich in die O2-Arena gehen.

Die Durchkommerzialisierung aller Lebensbereiche ist mit ein Iniz dafür, dass der Gesellschaft jeglicher Idealismus abhandenkommt. Rationalität macht sich breit. Man kann das begrüßen, sollte sich aber gewahr sein: Das ist eine sehr kalte Eigenschaft.

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