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Studentenproteste breiten sich aus

© dpa

Bildungsstreiks: Gibt es eine neue Protestbewegung?

Seit Tagen besetzen deutschlandweit Studenten Hörsäle. Sie wollen auf schlechte Studienbedingungen aufmerksam machen aber auch auf gesellschaftliche Missstände. Gibt es eine neue Protestbewegung?

„Besetzte Universität Berlin“ steht am Hauptgebäude der TU Berlin, das „Technische“ ist mit einem gemalten Transparent verdeckt. Über den Vorplatz an der Straße des 17. Juni schallt Reggaemusik aus einem bunt bemalten Lautsprecherwagen. „Kommt alle zum Plenum ins besetzte Audimax“, ruft ein junger Mann mit schulterlangen Haaren und Zwei-Wochen-Bart ins Mikrofon. Auch an der Humboldt-Universität ist das Audimax besetzt. „Geld für Bildung statt für Banken“, steht hier auf einem großen Plakat.

Was fordern die Studierenden?
Die Studierenden kämpfen bundesweit gegen eine zu hohe Arbeits- und Prüfungsbelastung im Bachelorstudium, für einen breiten Zugang zu den Masterprogrammen und für mehr studentische Mitbestimmung an den Unis. Sie wollen Druck auf Unileitungen und auf die Politik machen, um – wie im „Bildungsstreik“ vom Sommer dieses Jahres versprochen – die Studienbedingungen zu verbessern. Doch überall geht es auch um soziale Fragen: Der Staat soll das Bildungswesen gerechter machen und ausreichend finanzieren, das Bafög ausbauen und „die Hochschulen sozial öffnen“. Studiengebühren werden abgelehnt. Und überall wird gegen die „Ökonomisierung der Hochschulen“ und gegen die „Elite“ protestiert, die durch den Exzellenzwettbewerb an den Unis Einzug gehalten habe.

Wie ist die Stimmung an den Hochschulen?
An knapp 30 Hochschulen – Protestaktivisten sprechen gar von 50 – haben Studierende Hörsäle besetzt, um einen breiten Protest zu mobilisieren. Es hat allerdings den Anschein, dass der Kreis der Protestierenden noch begrenzt ist. Im Audimax der HU diskutieren am Freitag vormittag weniger als ein Dutzend Studierende. Die anderen Aktivisten seien „gerade duschen“, Flugblätter aufhängen – oder besuchten doch ihre Seminare, sagt ein Student. Zu einer Vollversammlung seien aber Hunderte gekommen.Im besetzten TU-Audimax hätten 60 Studierende seit dem frühen Abend an Forderungen gefeilt, stundenlang diskutiert, was passieren muss, damit sie den Hörsaal wieder freigeben, Plakate gemalt – und nur zwei Stunden geschlafen, fasst Maschinenbaustudent Patrick Ehringer, 23, die Nacht zusammen. „Elite stinkt“ steht auf einem Plakat, aber im Moment riecht es etwas streng nach den Wolldecken und Schlafsäcken, die noch über den Klappsitzen hängen.
Unzufrieden sind aber auch viele Studierende, die sich den Protesten bisher nicht anschließen. So wie Matthias Wetzel und Marco Weist, Studenten des Wirtschaftsingenieurwesens an der TU. Der Bachelor sei keine Berufsausbildung, die Zulassung zum Masterstudium müsse auch möglich sein, wenn man nicht nur gute Noten habe, sagen beide. Gegen überfüllte Seminare zu protestieren, bringe aber nichts. „Das ist nun mal so an einer Massenuni.“

Wie reagieren die Hochschulleitungen und die Politik?
Wie schon im Sommer solidarisieren sich die Hochschulleitungen und Wissenschaftsminister teilweise mit den Studierenden. In Potsdam versprach das Wissenschaftsministerium am Freitag, die Bologna-Reform zu überprüfen und gegebenenfalls nachzubessern. Daran werde bereits seit mehreren Monaten gearbeitet, sagte die Unileitung.
„Wir brauchen mehr Personal in der Lehre, um die Qualität zu halten und zu verbessern“, sagt Margret Wintermantel, Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz. Sie sieht die Proteste als Hinweis, dass „politisches Handeln gefordert ist“ – und verlangt eine 15-prozentige Erhöhung der Hochschuletats.
Auch die Kultusminister „wollen die Kritik der Studierenden wirklich ernst nehmen“, wie Doris Ahnen (SPD), Wissenschaftsministerin in Rheinland-Pfalz, kürzlich erklärte. Verbessert werden solle vor allem die Studierbarkeit im Bachelor: Etwa könnten Module nur noch mit einer Prüfung statt mit mehreren Teilprüfungen abgeschlossen werden. Die Kultusminister fordern die Hochschulen auf, auch sieben- oder achtsemestrige Bachelor-Studiengänge anzubieten. Aber am Bachelor als Regelabschluss wollen sie festhalten. Ideal wäre es, ein Masterstudium erst nach einigen Jahren im Beruf anzuschließen. Die Hochschulrektoren lehnen das ab und kritisieren Länder, die den Zugang zum Masterstudium über knappe Kapazitäten regeln.

Gibt es Gemeinsamkeiten mit der Studentenbewegung 1968?
Der Soziologe Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin spricht von einer „vierten Welle“ der Studierendenproteste seit der 68er Revolte – nach 1988/89, 1997/98 und 2003. Bei diesen Protestwellen sei es anders als 1968 vor allem um die schlechten Studienbedingungen gegangen. Die spielen auch dieses Mal wieder eine wichtige Rolle. Wie in den Jahren zuvor sei es gut möglich, dass die Proteste folgenlos abebben, sagt Rucht.
Die Proteste könnten aber auch „massiver“ und umfassender werden als in den Wellen zuvor – und so eine neue Qualität erhalten, sagt Rucht. Die Proteste würden nämlich in einem anderen politischen Rahmen stattfinden. Rucht nennt als Beispiele die Finanzkrise und die von der Regierung beschlossenen Steuergeschenke.„Viele denken jetzt: Vor diesem Hintergrund wird das nichts mit der Förderung von Bildung.“ Das könnte zu „härteren“ Protestformen führen, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Zudem laste durch die schärferen Leistungsanforderungen der Gesellschaft, durch die Bachelor-Studiengänge und den inzwischen allgegenwärtigen Elite-Gedanken sehr viel mehr Druck auf Studierenden als früher. „Irgendwann wird der Druck zu groß und der Kessel explodiert.“ Neu sei auch die internationale Dimension der Proteste: Derzeit streiken Studierende in Österreich und der Schweiz, in Italien haben sie Aktionen angekündigt – mit ähnlichen Forderungen wie ihre deutschen Kommilitonen.

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