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Politik: Blair oder mehr?

Europas Sozialdemokraten sind auf der Suche nach der verlorenen Vision – sie wollen eine solidarische EU

Zur Richtungssuche treffen sich an diesem Wochenende die Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien Europas in Wien. Auf einem Kongress wollen sie die sozialdemokratische Vision für Europa neu definieren. Denn die ist in den vergangenen Wochen abhanden gekommen. Keiner weiß mehr so recht, was es eigentlich bedeutet, sozialistisch, sozialdemokratisch oder doch sozialliberal zu sein. Im Brüsseler EU-Parlament wurden die Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationalitäten am Donnerstag noch einmal besonders deutlich: Der britische Premierminister Tony Blair, ein New-Labour-Mann, bekam aus seiner politischen Familie nicht nur Lob für seine Rede zu Beginn der britischen Ratspräsidentschaft. „Wir stehen an Ihrer Seite“, versprach der Fraktionsvorsitzende Martin Schulz. Allerdings folgte ein einschränkendes „wenn“.

Vielen Sozialisten ist Blair zu liberal. So entzündet sich an der Person des britischen Premiers eine Grundsatzdebatte in der sozialistischen Familie. „Wir sind uns nicht darüber einig, wie groß der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft tatsächlich sein soll“, sagt der niederländische EU-Abgeordnete Thijs Bermann. Vor allem zwischen britischen und französischen Sozialisten gebe es „gewaltige“ Meinungsunterschiede, wenn es um Liberalisierung und Privatisierung geht. „Diese Debatte haben wir noch lange nicht zu Ende geführt“, sagt der Niederländer.

In Brüssel liegen zurzeit einige Themen auf dem Tisch, an denen sich auch die sozialistischen Geister scheiden. Die britische Regierung möchte auf keinen Fall auf das so genannte Opt-out bei der Arbeitszeit-Richtlinie verzichten. Das erlaubt den Briten, die eigentliche Obergrenze von 48 Wochenstunden zu überschreiten. Die Sozialisten im EU-Parlament stellten sich entschieden gegen diese Ausnahmeregelung. Ganz ähnlich verhält es sich bei der umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie. Auch die hätte Blair gerne unterschrieben. Die Berichterstatterin im EU-Parlament, die deutsch-französische Sozialistin Evelyne Gebhardt, hat dagegen grundlegende Veränderungen gefordert.

Und auch zwischen den Regierungschefs herrscht zurzeit verkehrte Welt: Während Bundeskanzler Gerhard Schröder geschlossen mit dem Rechten Jacques Chirac für die Subventionen in der Landwirtschaft kämpft, kann es sein eigentlicher Parteifreund Blair kaum erwarten, dass die konservative Angela Merkel die Bundestagswahl im September gewinnt und er eine neue Verbündete auf dem europäischen Parkett hätte.

Die europäischen Sozialdemokraten sind sich nicht mehr einig darüber, wie liberal sie sein wollen und welches Sozialmodell sie auf europäischer Ebene unterstützen wollen. Der französische EU-Abgeordnete Harlem Désir sieht eine ganz klare Trennlinie – vor allem zu den Briten: „Blair spricht auf europäischer Ebene immer nur von Liberalisierung. Damit gehört er nicht in meine Partei. Wir müssen unsere gemeinsame Vision neu definieren.“ Das wollen die Sozialdemokraten nun in Wien versuchen. Die ungarische Sozialistin Zita Gurmai hofft vor allem, dass sich ihre Parteikollegen wieder auf die Basis der sozialdemokratischen Politik besinnen: „Wir brauchen mehr Solidarität in Europa. Das vergessen auch die Sozialisten aus den 15 alten Mitgliedstaaten immer wieder. Ich hoffe, dass sich das schnell ändern wird.“

Ruth Reichstein[Brüssel]

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