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© Caro / Ponizak

Bundestag: Alleskönner a. D.

Die SPD packt ein. 76 ihrer Abgeordneten haben ihre Sitze verloren. Das heißt aber auch, dass für ihre 200 Mitarbeiter das Leben plötzlich auf den Kopf gestellt ist. Gestern waren sie noch unentbehrliche Mehrfachqualifizierte. Heute müssen sie gehen – und meistens zum Arbeitsamt. Dort stellt sich dann die Frage: Was soll man bloß mit einem Abgeordnetenmitarbeiter anfangen?

Dies ist kein Skandal. Es ging alles mit rechten Dingen zu. Und trotzdem.

Dirk Bonebold wählte in der Wahlnacht in Thüringen die Nummer seiner Frau in Berlin: „Der Drops ist gelutscht.“

Stefan Stader rief in Köln spontan: „Ich eröffne eine Bar auf Sansibar, und wer mich besuchen kommt, kriegt die ersten Caipirinhas umsonst.“ Er konnte nur ulken, denn einen wirklichen Plan B hatte er nicht. Sein ganz persönliches Zittern in der Wahlnacht war überhaupt nicht vorgesehen, so komfortabel war der Stimmenabstand seines Abgeordneten zuvor gewesen.

Yvonne Mockenhaupt telefonierte ununterbrochen in dieser Nacht. Bist du noch dabei? In den Wahlkreisen auf dem Land sackte die Erkenntnis mit den ersten Prognosen tief. Eine Kollegin, die nichts mehr zu feiern hatte, trug ihren nutzlos kalt gestellten Sekt zu Stader ins Büro – sein Abgeordneter hatte es gerade doch noch geschafft. Sie war jetzt selbst kaltgestellt. Stader zappte sich noch in der Nacht durch den Videotext. Sie hatten bei der SPD fast alle Direktmandate verloren und insgesamt nur 23 Prozent gewonnen. Das war der Härtefall.

Sie alle, die in in dieser Nacht ihre Angehörigen verständigten, es kaum glauben konnten, es doch einsehen mussten, sind am Wahlabend nicht einmal Teil einer Tortengrafik im Fernsehen, und doch bestimmt der Ausgang der Wahl ihr Leben mindestens so dramatisch wie das der Abgeordneten selbst. Es sind die Mitarbeiter der Abgeordneten, deren Namen außerhalb des Bundestages keiner kennt, die allerdings die Maschine Bundestag am Laufen halten. Als die Menschen in den Wahllokalen noch ihre Kreuzchen verteilen, liegt längst ein versiegeltes Paket mit ihrer aller Namen bei der Arbeitsagentur Berlin Mitte: alle Abgeordnetenmitarbeiter, deren Arbeitsverträge automatisch zum Ende einer Legislaturperiode auslaufen. Sie dürfen die Meldefrist nicht versäumen, aber bis zu diesem Abend wissen sie ja noch nicht, ob sie wirklich arbeitslos werden oder nicht. Gerade noch war es undenkbar. Im Durchschnitt zittern pro Abgeordnetem allein in Berlin noch jeweils drei Mitarbeiter um ihre eigene Zukunft. Sie starren auf die Prognosen, machen am Telefon ein ungläubiges Gesicht. Schon um 18 Uhr ist ihr Leben auf den Kopf gestellt.

Die SPD hat 76 Sitze verloren, mehr als 200 Berliner Mitarbeiter aus der SPD-Fraktion würden sich also einen neuen Job suchen müssen, ab 1. November sind sie offiziell arbeitslos. Als gestern der neue Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkam, hatten die Mitarbeiter ihre Büros schon für die Neuen geräumt. Sie besaßen die längste Zeit einen Hausausweis für den deutschen Bundestag, eine Casino-Karte, den Ausweis für die Parlamentsbibliothek und das Recht, ihre Kinder in den Bundestagskindergarten zu schicken.

Ein paar Tage vorher kann man den Mitarbeiter Dirk Bonebold – Personalausweis, Sicherheitsschleuse, „Sie werden abgeholt“ – in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus besuchen. Eine ganze SPD-Etage, deren Holzoptik von nun an der FDP ein warmes Gefühl geben wird. Er arbeitete für die Abgeordnete Petra Heß. Hinter Bonebold ragen Nägel aus der Wand wie aus einem Uecker-Kunstwerk, aber es ist nur die abgeräumte Wappenwand, an jedem Nagel hing das hölzerne Wappen eines Bundeswehrstützpunktes, den seine Chefin in den letzten vier Jahren besucht hatte. Verteidigungsausschuss.

Aber weil ihre ganz persönliche Verteidigungslinie in Thüringen zu einer Erneuerung ihres Direktmandats nicht mehr gereicht hat, ja nicht einmal der komfortable Listenplatz vier es noch herausreißen konnte, deshalb finden sich jetzt die Akten in Umzugskisten, die Regale gähnen leer, aber die Kaffeemaschine zieht noch Luft. Dirk Bonebold schnorchelt etwas Milch in zwei Tassen.

Bonebold sagt, jeder, der sich für diesen Job entscheidet, weiß im Prinzip, auf was er sich einlässt: Es kommen Wahlen. Alle vier Jahre. Der Job ist also höchstens für vier Jahre sicher, er endet automatisch zum Ende der Legislaturperiode. „Und wenn der Abgeordnete zwischendurch an einen Baum fährt, ist alles von heute auf morgen vorbei.“ So lauten die Verträge.

In der heißen Phase des Wahlkampfs, zwei Wochen lang, hat er seine Chefin im Wahlkreis unterstützt. Sie zogen über die thüringischen Dörfer, Petra Heß hat Rosen verteilt, und die Leute sagten danke. Die Zeitungen schrieben, wenn überhaupt jemand ein Direktmandat hole, dann sie. Es gab keinen Anlass zur Sorge.

Bonebold war also generell vorbereitet und dann trotzdem konkret überrascht. Er wusste, dass es irgendwann passiert, aber nicht, dass es jetzt passiert. Kein Alternativplan, ehrlich gesagt, dieses Ergebnis stand außerhalb des Möglichen.

Petra Heß holte 26,9 Prozent der Erststimmen, das lag immer noch weit über den 17,6 Prozent der SPD-Zweitstimmen in Thüringen. Sie persönlich hat man immer sehr gemocht, und dass man sie auch jetzt offenbar noch überdurchschnittlich mochte, hatte ja nicht zuletzt mit Bonebold selbst zu tun, der sich in den vergangenen sieben Jahren um die Bürgeranfragen kümmerte, der bis zum letzten Tag Besuchergruppen betreute, Ansprechpartner im Wahlkreis suchte. Es gab Tage, in denen er 100 E-Mails beantwortete, er hat Grußworte geschrieben für die unzähligen freiwilligen Feuerwehren in Gotha, Arnstadt, Ilmenau, einem Wahlkreis, der in die Fläche geht, und seine Chefin war gerne an der Basis in einer der 200 Ortschaften.

Bonebold hat Wirtschaftsrecht studiert, danach als studentischer Mitarbeiter bei einer Abgeordneten angefangen. Eins ergab das andere, wie bei so vielen hier. Das Besondere an diesem Job ist ja, dass sie mit ihrem jeweiligen Abgeordneten über mindestens vier Jahre eine spezielle, symbiotische Beziehung eingehen. Sie arbeiten täglich zusammen, inhaltlich eng. Ein extremes Vertrauensverhältnis entsteht, das manche an Familie erinnert. Viele Mitarbeiter haben auch ein Parteibuch. Aber genau die Gesinnung, die vielleicht vorher dazu geführt hat, dass man bei einem SPD-Abgeordneten anfing, die vorher so viel wert war, macht nach dem Jobverlust so inkompatibel – der Treiber unterstützt das Programm nicht. Würde Bonebold jetzt zum Beispiel für einen Abgeordneten der Linken arbeiten, müsste er womöglich für die Abschaffung der Bundeswehr sein. Undenkbar, so eine Kehrtwende. Wer würde ihm so etwas glauben? Deshalb sagt Bonebold: „Für mich gibt es gar keinen Grund, zu einem anderen Abgeordneten zu gehen. Würden Sie das tun?“

Er hat nur eine Wahl mit verloren. Er ist ja nicht vom Glauben abgefallen.

Er ist jetzt froh, dass er zwar Frau und Kind hat, aber weder ein Haus noch etwas anderes auf Pump gekauft hat. 36 Jahre sind kein schlechtes Alter, um den Job zu wechseln. In den vier Wochen seit der Bundestagswahl hatte er einen ersten Termin beim Arbeitsamt, er hat sich zu Hause hingesetzt und gefragt: Was hast du überhaupt die letzten Jahre gemacht? Was wäre etwas Vergleichbares in der Welt da draußen? Vielleicht so etwas wie eine Vorstandsassistenz. Oder die Geschäftsstelle eines Verbandes führen.

Man muss sich die Abgeordnetenbüros wie ein abgehobenes Raumschiff vorstellen, die Mitarbeiter sagen „da draußen“, wenn sie vom Rest der Welt sprechen, als lebten sie in einer Parallelwelt mit eigenen Gesetzen. Dabei ist es nur das Jakob-Kaiser-Haus, dessen Gänge aber tatsächlich wie in einem Gefängnis um die zentralen Treppen gelegt sind. Auf die Gänge münden die Türen, hinter denen sich in den letzten Jahren ihr Leben hauptsächlich abgespielt hat. Man kann an verschiedene Türen klopfen, überall packen sie zusammen, sitzen auf Kisten, haben Zeit, verabschieden sich.

„Das Leben hier drinnen formt einen auch“, sagt eine. Sie alle haben akzeptiert, dass sie in den Sitzungswochen bis zu zwölf Stunden im Büro sind.

Einige tragen Personalverantwortung, auch wenn Anrufer immer glauben, sie seien bloß die Sekretärin. Wenn sie allerdings irgendwo anriefen, „Büro X, Deutscher Bundestag“, wurde ihre Angelegenheit in der Provinz gleich zur Chefsache.

Der Bürger ruft bei ihnen an und auch der politische Gegner. Sie halten Druck von allen Seiten stand.

Sie können anderen den Rücken freihalten, vorausschauend denken.

Sie müssen alles verkaufen können, auch Unpopuläres. Manchmal sind sie tiefer im Stoff als ihr Abgeordneter.

Eine CDU-Bekannte sagte einer SPD-Mitarbeiterin : So ein unsicheres Leben wie du es führst, das hielte ich nicht aus. „Aber ihr seid doch die, die den Kündigungsschutz lockern wollen“, antwortete die schlagfertig, „oder?“ Tja, so ist das mit diesen Mitarbeitern. Ihr eigenes Leben ist Teil eines politischen Überbaus. „Wir sehen den Wald und die Bäume.“

Aber beim Arbeitsamt zählt so etwas nicht. Wald und Bäume haben sie nicht. Dafür haben sie mit ihren Computermasken zu wenig Fantasie. Einige Gespräche waren ernüchternd. „Sie haben Geschichte studiert, aha, für Historiker haben wir leider im Moment nichts.“ Nur, dass dieser Mann überhaupt niemals als Historiker gearbeitet hat. Er hatte Kongresse und Reisen organisiert, Reden geschrieben, Öffentlichkeitsarbeit gemacht, sich um Bürgeranfragen gekümmert.

„Ihr seid ja alles Beamte“, sagten ihnen jahrelang die Leute in der Kneipe. Und das stimmt natürlich nicht. „Eigentlich“, sagt Stefan Stader, „haben wir ja prekäre Arbeitsverhältnisse.“ Alle vier Jahre laufen sie aus.

Stader ist der Vorsitzende der „AG Mitarbeiter SPD“, Yvonne Mockenhaupt ist sein Vize. Sie leiten ihre Organisation mit viel Engagement, „aber ohne Rechte“. Schon vor über einem halben Jahr haben sie absehen können, dass die SPD wahrscheinlich nicht zu den großen Gewinnern der Wahl gehören wird. Zwar haben ihre beiden Abgeordneten die Wahl überlebt, aber vorausschauend haben sie einen Tag mit der Arbeitsagentur Mitte organisiert und das größte Problem herausgefiltert: „Für unsere ganz besondere Tätigkeit gibt es beim Arbeitsamt keinen Begriff.“ Die besondere Spezies des Abgeordnetenmitarbeiters, erklärt Yvonne Mockenhaupt, hat dort keine Kategorie. Was intern „wissenschaftlicher Mitarbeiter“ heißt, hat mit der Berufsbedeutung im Sinne einer Universität überhaupt nichts zu tun. „Büroleiter“ unterschlägt die inhaltlichen Kompetenzen. Die Bezeichnungen, gestaffelt nach Gehältern, vermitteln Außenstehenden nichts.

„Vielleicht sollte man es Referententätigkeit nennen“, hatte sie vorgeschlagen. Denn eigentlich haben sie hier unbemerkt Fähigkeiten gesammelt, die auf dem Arbeitsmarkt gesucht sind.

„Flexibilität zum Beispiel“, sagt Stader. Wenn ein Abgeordneter nicht mehr für den Europa-, sondern für den Wirtschaftsausschuss zuständig ist, wechselt der ja nicht seinen langjährigen Mitarbeiter aus, sondern die Mitarbeiter arbeiten sich in das neue Thema ein.

„Belastbarkeit“, führt Yvonne Mockenhaupt ins Feld. Sie haben sich daran gewöhnt, dass Empfänge abends stattfinden, dass eine Rede, an der sie bis zur letzten Minute feilen, spät gehalten wird.

„Kontaktfähigeit“, sagt Stader. Sie müssen ja dauernd in alle Richtungen kommunizieren. Mit Fachleuten, mit Laien, mit Bürgern.

„Parkettsicherheit“, sagt Mockenhaupt, denn Protokoll macht hier niemandem Angst. Die Mitarbeiter wissen, wie man den Papst anschreibt oder mit Botschaftern zu Mittag isst.

„Lebenslanges Lernen“, sagt Stader, „ist hier schon längst Praxis.“ SPD-Abgeordnetenmitarbeiter können sogar twittern.

Draußen wetzt sich der Wind an den Häuserkanten der Regierungsbauten an der Spree. Und hier drinnen im Büro zwischen Stefan Stader und Yvonne Mockenhaupt schärft sich das besondere, schillernde Profil der Spezies des Abgeordnetenmitarbeiters, der alles kann. Er ist zugleich so etwas wie der Assistent eines Vorstands, ein Marketing-Fachmann, ein Kommunikationsexperte, ein Öffentlichkeitsarbeiter und Veranstalter von Reisen und Kongressen. Er könnte in jeder größeren Firma arbeiten oder eine kleine leiten. Ein Allroundtalent, das jederzeit wieder in die zweite Reihe zurücktreten kann. Sein fachliches Talent steht nicht hinter seinem organisatorischen zurück.

SPD an Erde: Jetzt müssen nur noch die „da draußen“ etwas von diesen Qualifikationen bemerken.

Yvonne Mockenhaupt haben sie immer wieder gesagt, man komme doch sicher bei den Lobbyisten unter. Der Wert eines Lobbyisten bemisst sich an seinen Kontakten. „Aber wer will schon einen besonders guten Draht zur Opposition?“

Fünf Zentimeter hoch ist der Stapel der hausinternen Jobbörse, „jedes Blatt ein Schicksal“, unterteilt in Berufserfahrung und Hauserfahrung. Hauserfahrung zählt, wenn ein neuer Abgeordneter sich vielleicht einen erfahrenen Berliner Mitarbeiter angeln will.

Die „AG Mitarbeiter SPD“ hat intern einen Fragebogen herumgeschickt, wer von den über 200 Betroffenen in der Hauptstadt bereit wäre, auch für den Abgeordneten einer anderen Fraktion zu arbeiten, erzählt Stefan Stader. 160 von ihnen haben die Frage bejaht. Symbiotisches Verhältnis hin oder her. „Daran sieht man den Grad der Verzweiflung.“

Die Mitarbeiter, die hinter den Türen paketweise alte Visitenkarten wegwerfen, sagen, dass sie ihre Kinder vom Bundestagskindergarten abmelden müssen. Aber es gebe ja eine Karenzzeit von drei Monaten und auch Regelungen für den Härtefall. Wenn die Neuen nicht gleich mit einem Schwung Kinder antanzen, sollte das möglich sein.

Sie sagen, sie verlieren ihr BVG-Jobticket, aber so viel Ersparnis brachte das auch nicht. Sie sagen, sie haben sich immer wieder in etwas Neues einarbeiten müssen – das können sie auch jetzt. Sie sagen, wer diesen Job annimmt, der hat es im Prinzip gewusst.

Das Thema der nächsten Veranstaltung der „AG Mitarbeiter SPD“ für alle Verbliebenen: „Arbeiten in der Opposition“.

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