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Hanaa El-Hussein

© Heinrich

Bundestagswahlkampf: Das gewählte Abseits

Zu einem Auftritt hat man sie eskortiert, damit nichts passiert, beim nächsten redet kaum einer mit ihr. Hanaa El-Hussein, Palästinenserin aus West-Berlin, ist Direktkandidatin der FDP im Osten der Stadt, in Lichtenberg, dem Bezirk der Alten, der Deutschen, der Linken und der Nazis. Über einen Wahlkampf voller Tücken

Bist du verrückt geworden?, haben sie gefragt, ihre Eltern und ihre Freunde. Das war 1996, und sie wollte in die FDP eintreten. Wie konnte sie? Politik! Ohnehin ein schmutziges Geschäft. Und dann auch noch die FDP!

Sie ließ sich nicht beirren, trat ein, machte Bildung und Integration zu ihren Schwerpunkten und wurde, 13 Jahre nach dem Parteieintritt, als Direktkandidatin für die Bundestagswahl nominiert.

Und nun steht sie an einem Septembersamstag unter dem blaugelben Wahlstandsonnenschirm, und die Frage von damals hat sie wieder eingeholt.

Bist zu verrückt geworden?

Denn der Wahlkreis von Hanaa El-Hussein, 41, gebürtige Palästinenserin, wohnhaft im bürgerlichen Berlin-Schmargendorf, ist der Ostbezirk Lichtenberg, der wahrscheinlich unmöglichste aller Orte für einen Erfolg. Denn er ist erstens das Gegenteil von El-Hussein und zweitens auch von FDP.

Der Bezirk Lichtenberg ist alt und deutsch und tiefrot. Bei der Bundestagswahl 2005 gingen hier nahezu 43 Prozent an die Partei, die damals noch PDS hieß, 2,9 Prozent gab es für die FDP. Jeder vierte Bewohner ist älter als 60 Jahre. Mehr als 90 Prozent sind Deutsche. Im Sozialstrukturatlas Berlin 2008 belegt Lichtenberg den vorletzten Platz nach Sozialindex II, der „Potenziale für zukünftige soziale Probleme“ bemisst, heißt: Die Zahl jugendlicher und Langzeitarbeitsloser wird steigen, es wird immer mehr „erwerbsfähige Hilfebedürftige“ geben.

An jenem Samstag ist ein interkulturelles Fußballfest geplant. 20 Jugendmannschaften, ein Altherren-Prominententeam und eine vietnamesische Auswahl, die Inlineskater-Hockeyspieler vom EHC Galabau und Selbsthilfegruppen – vietnamesische, polnische, mosambikanische, russlanddeutsche – sind vertreten. Sport und interkulturell, da passt Hanaa El-Hussein, die Orientalin, die für Leistung wirbt, noch am wenigsten nicht hin.

Der Wind bläst über das Stadion Friedrichsfelde, die Sonnenschirme vor den Infoständen der Parteien nehmen von Zeit zu Zeit reißaus und werden von flinken Wahlhelfern wieder eingefangen. Hanaa El-Hussein ist eine zierliche Frau, lässig, aber nicht zu leger gekleidet. Sie plaudert mit Jungliberalen, auch wenn es gar nicht interessant ist, und bietet ihre Wahlpostkarten an, auch wenn die keiner will.

Die meisten Hände zucken weg. Wer zugreift, tut das unverbindlich. Auf der Postkarte steht El-Husseins Plakatmotto „Deutschlands Vielfalt einen“.

„FDP ist nicht meine Kragenweite“, wehrt eine Rentnerin das Stück Papier ab. Noch bevor die FDP-Kandidatin etwas sagen kann, bekommt die Rentnerin Verstärkung: „Wetten wir um eine Kiste Sekt, dass ihr nach der Wahl eine Mehrwertsteuererhöhung macht? Wetten wir? Wetten wir?“ – „Werden wir nicht machen“, antwortet El-Hussein. Punkt. Mehr nicht. Ein hagerer Mann mit tief liegenden Augen sagt: „FDP interessiert mich nicht, aber Sie interessieren mich.“ Ein stoppelhaariges Hünengesicht über einem aufgepolsterten Eishockeytrikot des EHC Galabau sagt: „Ich wähle DVU, damit’s hier wieder sauber wird.“ Was er den Rechten von der „Deutschen Volksunion“ sonst noch zutraut, bleibt offen. „Hier ist es doch sauber“, entgegnet El-Hussein.

Die Marschmusik des Fanfarenzugs Berlin-Friedrichshain füllt das Sportgelände, vietnamesische Mädchen wiegen sich auf einer Bühne zum Lotusblütentanz, während die Altherren-Fußballer zum Kurzpassspiel ansetzen. Gesine Lötzsch, Anwohnerin, Spitzenkandidatin und Bundestagsabgeordnete der Linken, hat das Seniorenspiel angepfiffen. El-Hussein hat nichts anzupfeifen. Außer einen ihrer Helfer, als sie merkt, dass auf ihren Flyern der Wahltermin fälschlicherweise auf den 23. September datiert ist. „Mist“, sagt sie. „Na, ziehen wir die Wahl eben vor.“ – „Bin dabei“, sagt Lötzsch, die es mitkriegt. Sonst merkt es keiner.

Es ist vielleicht ein Glück, dass man sie nicht bemerkt. Der Bezirk hat ein doppelt schlechtes Image. Zu der althergebrachten Nähe zur Linken, viele ehemalige Stasibedienstete wohnen noch hier, kommt das Image als Neonazibezirk. Die Weitlingstraße ist eine gute Adresse für Rechtsextremisten. Hier finden sich einschlägige Geschäfte, heißen Restaurants „Zum Happen“, die Küche ist deutsch, preiswert und lecker. Grimmig blickende Hunde, die man nicht streicheln möchte, zerren grimmig blickende junge Frauen hinter sich her. Die große Zahl an Billigfriseuren legt es nahe, sie ins Verhältnis zu der hohen Anzahl Stoppelschädel zu setzen.

Es gab Vorfälle in dem Bezirk, Menschen ausländischer Herkunft wurden angegriffen, das passierte auch Politikern, 2006 dem Linken Giyasettin Sayan, der als „Scheißausländer“ beschimpft und mit einer Flasche beworfen wurde. Mit 17 Prozent aller rechten Gewalttaten in Berlin hält der Bezirk den Rekord.

Dass die Rechten auch die FDP-Kandidatin auf dem Radar haben, zeigte sich am vergangenen Samstag, auch Hanaa El-Hussein bekam, wie viele Migranten in Berlin, Post von den Rechtsextremen: „Gemäß dem 5-Punkte-Plan zur Ausländerrückführung bin ich als Ausländerrückführungbeauftragter der NPD angehalten, Sie mit den Einzelheiten Ihrer Heimreise vertraut zu machen“, stand da. Sie hat Anzeige erstattet. „Erst mal war ich geschockt“, sagt sie. „Ich habe zwar keine Angst, aber eine innere Unsicherheit ist schon da.“ Ein mulmiges Gefühl, „dass die mehr von mir wissen könnten“. Und: „Werde ich jetzt beobachtet?“ Immerhin hat sie noch Wahlkampftermine in Lichtenberg.

Der FDP-Bezirksverband Lichtenberg machte sich schon früher Sorgen. Ein Jungliberaler in Windjacke eskortierte sie für ihren Wahlkampf im Stadion in der Zachertstraße vom S-Bahnhof durch den ganzen Weitlingkiez. Es sollte an jenem Spätsommertag keinen ausländerfeindlichen Zwischenfall geben. „Gehen Sie hier mal in eine Kneipe und sprechen das Thema Todesstrafe an“, tönt ein anderer aus der liberalen Partei wissend. Da könne man nämlich was erleben.

Sie habe Lichtenberg „freiwillig“ übernommen, sagt El-Hussein, was einerseits entschlossen klingt, andererseits aber auch nach: Hier werde ich nach der Wahl keine weitere Zeit verbringen.

Klar, Lichtenberg habe auch idyllische Ecken wie den Obersee, sagt El-Hussein. Dennoch: Lichtenberg und FDP, das klingt auch acht Jahre nach dem Einzug von zwei Liberalen in die Bezirksverordnetenversammlung wie Currywurst an Kaviargelee. Es passt nicht. Der Leistungsempfänger-Bezirk und die „Partei der Leistungsbereiten“, ausgerufen vom damals neuen Generalsekretär Westerwelle auf dem FDP-Sonderparteitag in Gera 1994.

Der Frage, was sie hier will, kommt sie meist zuvor – und beantwortet eine andere gleich mit: Wie kommt sie zur „Deutschland kann es besser“-Partei?

Leistung hat im Leben El-Husseins immer eine große Rolle gespielt. 1975 kam sie, damals siebenjährig, mit der Familie aus dem Libanon nach Berlin, sie waren Flüchtlinge, Asylanten, „staatenlos“ und „ungeklärt“ im Behördendeutsch. Ihre Kindheit verbrachte sie in Spandau, als sechstes Kind einer Großfamilie – „vier Jungs, vier Mädels“, die Mutter Analphabetin, der Vater im Straßenbau. Manche in dieser Situation ergeben sich, bleiben unten. Für Hanaas Familie galt: Nun kann es nur nach oben gehen. Ihr Eltern hätten immer gesagt: „Das Einzige, was man euch nicht nehmen kann, ist eure Bildung.“ Also büffelte sie bis zum Fachabitur Wirtschaft, lernte Groß- und Außenhandelskauffrau und setzte 1997 ein BWL-Fachhochschuldiplom drauf. Heute verwaltet sie die Finanzen eines Instituts für Ressourcenmanagement.

Zur Leistungsbereitschaft kam der Freiheitsdrang. Den Fall der Mauer habe sie als ihr ganz persönliches Freiheitsmoment empfunden, erstmals durfte sie West-Berlin verlassen, erstmals Deutschland. Als Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Prager Botschaft den berühmtesten Halbsatz der jüngeren Geschichte spricht, erobert er auch einen Platz im Leben von El-Hussein. Sieben Jahre später nimmt eine Freundin sie mit zum FDP-Ortsverband Tempelhof.

„Ich weiß, was es heißt, wenn man etwas erreichen will, dass man dafür kämpfen muss.“ So spricht sie und erzählt aus ihrem Leben, vom Kampf um Anerkennung in der fremden Mehrheitsgesellschaft. Aber wer will das hier wissen? Die Deutschen nicht, die haben andere Probleme, und die Vietnamesen, die den Großteil der Lichtenberger Ausländer ausmachen, dürfen weder wählen, noch zählen sie zu den Angesprochenen, wenn von mangelnder Integrationsbereitschaft der Zuwanderer die Rede ist.

Rund ein Dutzend Mal findet sich der Begriff „Leistung“ im FDP-Wahlprogramm. Bei der Linken taucht er einmal auf. Die Linke fordert auf Plakaten „Reichtum für alle“. El-Hussein sagt, sie sei für die Förderung der Leistungsschwachen, aber auch der Leistungsstarken.

Ihre stärksten Momente hat die Wahlkämpferin, wenn sie über Benachteiligung spricht und den Ton hält, ohne sofort wieder in die Netto-Brutto-Prosa abzudriften. Dann trifft sie in die Kiezseele, und sie findet auch das Gehör bei Lichtenbergern, denen häufiger die Frage nach Schonvermögen als Einfühlungsvermögen begegnen dürfte.

Oft wirkt es, als suche El-Hussein noch nach ihrer Rolle. „Ich habe lange überlegt, warum ich für Lichtenberg kandidieren will“, leitet sie ihre Selbstpräsentation vor rund 80 Besuchern, die meisten jenseits der 70, im Kulturhaus an der Treskowallee ein. Die Lichtenberger Bürgervereine haben zur Podiumsdiskussion der Direktkandidaten geladen. Unter gnadenlosem Neonlicht in dem heruntergekommenen Saal beginnt die FDP-Frau zweimal Sätze mit: „Jetzt fragen Sie sich, warum …“, nur, es fragt sie keiner. Die Zuhörer schreiben Fragen auf Karten, die ein freundlicher Herr dem Moderator reicht. Die meisten Antworten dürfen Gesine Lötzsch (Die Linke) und Andreas Geisel (SPD) geben, zur FDP fällt offenbar niemandem eine Frage ein. El-Hussein schmeichelt, Lichtenberg sei „spannend“ und als Ost-West-Schmelztiegel genau der richtige Ort für ihr Plakat mit dem Motto „Deutschlands Vielfalt einen“. Dann bricht sie ab: „Jetzt habe ich den Faden verloren.“ Schweigen. Der Moderator erlöst sie und erteilt Geisel das Wort, der seine Agenda herunterspult von A wie Arbeitsmarkt bis W wie Wirtschaftsförderung.

„Ich schwimme noch, aber langsam wird das Wasser wärmer“, entschuldigt El-Hussein später den Lapsus. Natürlich weiß sie, dass sie chancenlos ist. Ein Grund zum Aufgeben ist das nicht. Das widerspräche ihrer Biografie. Sie hatte nach den dürren Fakten auch keine Chance, aber Fakten sind nicht Leben. Und was aus den Fakten wird, entscheidet der Einzelne. Sie jedenfalls hat sich gegen die Fakten durchgebissen, bis die sich änderten.

Im Stadion Friedrichsfelde sagt El-Hussein: „Immerhin, ich bin ein paar Flyer losgeworden.“ Hinter ihr hüpft vom Wind getrieben ein roter Gummisessel über die Wiese, verfolgt von einem Wahlhelfer der Linken. Die Jungliberalen werfen sich über aufgewirbelte Flyer, die sich davonmachen, als wüssten sie, dass dies nicht der rechte Ort ist für sie.

Daniel Jahn

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