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Cem Özdemir

© Marie Preuß

Cem Özdemir: "Arbeiterkinder haben keine Lobby"

Überraschend hat Volker Ratzmann, Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus, seine Kandidatur für den Posten des Bundesvorsitzenden der Grünen zurückgezogen. Alleiniger Bewerber ist damit Cem Özdemir. Vor einigen Tagen haben wir den "anatolischen Schwaben" getroffen.

Von Amir El-Ghussein

Herr Özdemir, Sie gehören in ihrem Stadtteil in Berlin einer der großen Minderheiten an. Wie fühlt man sich als Schwabe in Kreuzberg?

Gut. Im Prenzlauer Berg wäre es wohl schwieriger. Ich habe gehört, dass die Schwaben dort unerwünscht seien. Aber in Kreuzberg haben wir ja eine etwas längere Vergangenheit. Hans-Christian Ströbele, der hier als alter Grünen-Vorkämpfer bekannt ist, hat erzählt, dass die Schwaben wegen ihrer Radikalität gefürchtet waren. Die kamen aus der Provinz und haben dann so richtig über die Stränge geschlagen. Das soll heute anders sein, habe ich mir sagen lassen. 

Sie spielen am Wochenende mit den Jungs aus der Umgebung Fußball. Welche Probleme bekommen sie da mit?

Da treibt mich zuerst immer die Frage um, in welche Mannschaft  ich gewählt werde. Niemand will unter den letzten zwei, drei sein, die zugeteilt werden. Das ist wie früher in der Schule.

Aber ihre Frage zielte ja noch auf etwas anderes ab: Dort versammelt sich das pralle Leben. Es gibt türkische und arabische, kurdische und palästinensische Kinder - da sind alle dabei. Wir spielen natürlich in erster Linie Fußball und machen keine Sozialpädagogik. Aber neben der Bewegung, die mir gut tut, bekomme ich einen Einblick davon, wie die Jugendlichen reden und was sie beschäftigt.

Jetzt, wo Reinhard Bütikofer aufhört, bewerben Sie sich bei den Grünen für den Parteivorsitz. Wo wird es unter einem Vorsitzenden Özdemir hingehen? Was wollen sie anders machen?

Ich würde nicht alles anders machen, aber ich bin ein anderer Typ als Reinhard Bütikofer, komme aus einer anderen Generation von Politikern, die nicht mehr vor allem mit ideologischen Grabenkämpfen aufgewachsen sind. Eine meiner Stärken sehe ich auch darin, die Partei zu öffnen. Viele Menschen denken grün, sie wählen uns aber nicht unbedingt. Wir müssen dieses Potenzial besser nutzen. Ich will auch Migranten für die Grünen zu werben, denn auch wir müssen auf den demographischen Wandel der Gesellschaft reagieren. Ich will auch das Thema Europa stärker in die Bundespolitik hineintragen, nächstes Jahr steht ja auch eine Europawahl an. Besonders wichtig ist mir die Bildungspolitik, das ist eine entscheidende Frage für die Zukunft unseres Landes. Und wir Grünen haben hier auf allen Ebenen sehr kompetente Leute. Wir sind nicht nur das Original im Bereich Klimapolitik, wir müssen genauso auch der Bildungspolitik unseren Stempel aufdrücken.

Auch die Kanzlerin hat das Thema für sich entdeckt und tingelt gerade auf "Bildungsreise" durch die Republik.

Die Union hat da lange Jahre geschlafen und ist für einen großen Teil der Probleme, die wir heute im Bildungsbereich sehen, mitverantwortlich. Ich sehe es nicht ein, ihnen das Gebiet kampflos zu überlassen. Da können wir auch gleich den Bock zum Gärtner machen.

Warum haben die Grünen überhaupt zwei Bundesvorsitzende und zwei Fraktionsvorsitzende?

Das hat bei uns lange Tradition. Mindestens 50 Prozent der Posten in der Partei und der Mandatsträger werden, wenn möglich, mit Frauen besetzt. Außerdem gab es bei den Grünen traditionell immer zwei Flügel: die sogenannten Reformer oder Realos und die Linken oder Fundis. Quote und Strömungszuordnung findet bei den Personalentscheidungen ihre Berücksichtigung. Hinzu kommt, wir haben eine starke basisdemokratische Tradition. Doppelspitzen sind ein bewährtes Mittel der checks and balances gegen Machtkonzentration.

Wo stehen die Grünen jetzt? Sind sie die Mitte der Mitte? Keine andere Partei hat so viele Koalitionsmöglichkeiten.

"Die Mitte" ist meines Erachtens ein politisch missbrauchter Begriff. Aber machtpolitisch stimme ich zu, wir Grüne sind in einer strategischen Schlüsselposition und die anderen müssen unsere Politikangebote ernst nehmen. Wichtig ist aufzupassen, dass es nicht in Beliebigkeit abgleitet. Wir koalieren in Hamburg mit der CDU, weil wir mit ihr einen guten Koalitionsvertrag für Hamburg aushandeln konnten.. In Hessen wäre das nicht vorstellbar: wegen der Person Roland Koch aber auch wegen anderer Inhalte. Denken Sie nur an die letzten Wahlkämpfe (bei denen der hessische Ministerpräsident Koch mit seiner Haltung beim Thema Jugendkriminalität in die Kritik geriet, Anm. d. Red.).

Bei der Linkspartei ist es ähnlich: in Hessen kann es sinnvoll sein, mit deren Hilfe Roland Koch abzuwählen. Klar ist für mich aber auch, dass ich mir das auf Bundesebene nicht vorstellen kann. Die Unterschiede sind zu groß - in der Außen- und in der Innenpolitik. Man muss eine Koalition also immer auf den Fall beziehen. Für uns entscheidend ist: Ist die grüne Handschrift erkennbar?

Sprechen wir über das Thema, das Sie in Zukunft besetzen wollen: die Bildung. Eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung gab gerade Ergebnisse einer Studie bekannt, nach denen jeder zweite Türke in Berlin arbeitslos sei. Da gibt es noch viele andere Studien, die alle mit sehr dramatischen Ergebnissen herauskommen, nämlich: zum einen höhere Arbeitslosigkeit und zum anderen höhere Abbrecherquote. Es sind erschreckende Zahlen.

Was ist da los?

Die Mischung macht das Problem: Gepaart mit mangelnden Deutschkenntnissen und einem Umfeld, in dem kein Akademiker lebt, Eltern arbeitslos sind und die Geschwister die Schule abgebrochen haben, ist es sehr schwer, sich entsprechend zu motivieren, auf den Hosenboden zu setzen und richtig durchzustarten in der Schule. Erst recht, wenn ich auf eine Schule gehe, wo nicht gerade die Leistungsträger sitzen, die mich dann mitziehen können.

Unsere Antwort darauf: Die Kinder müssen so früh wie möglich in Kinderbetreuungseinrichtungen, gerade dann, wo die Eltern schlecht deutsch sprechen oder bildungsfern sind. Und wir brauchen sie länger, auch am Nachmittag - Stichwort Ganztagesschule - damit die Hausaufgaben in der Schule gemacht werden und sich die Lehrer und Sozialpädagogen um die Entwicklung der Kinder und  auch ihre Probleme kümmern können. Es geht aber nicht nur um Quantität: Das, was in dieser Zeit stattfindet, muss qualitativ besser werden. Das bedeutet, dass wir unsere Pädagogen besser ausbilden müssen. Diese Berufe müssen auch wieder eine stärkere gesellschaftliche Anerkennung bekommen, dafür sind sie einfach zu wichtig.

Wie wollen Sie das Problem der Chancenungleichheit - besonders bei Migranten - bekämpfen?

Nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund haben das Problem. Deutsche Arbeiterkinder haben genau dieselben Probleme, nur spricht niemand über sie. Sie haben keine Lobby.

Das Problem ist ein soziales: In Düsseldorf hat keiner ein Problem damit, seine Kinder in einen Kindergarten mit vielen Japanern zu schicken - wenn die Eltern der Kinder Akademiker sind. Man schlägt sich sogar darum. Das Problem ist offensichtlich nicht, dass man nicht mit Migranten zusammen sein will.

Sondern?

Unser bisheriges Bildungssystem ist hoffnungslos überfordert mit Familien, bei denen zu Hause nicht der Brockhaus steht, wo es morgens kein Bircher-Müsli gibt und mittags die Mami nicht mit dem Vollwert-Essen wartet. Die Migranten- und Arbeiterkinder hätten in dieses Klischee reinpassen sollen, aber das klappt eben nicht so. Dort wo ich wohne, kriegen jedenfalls die wenigsten zu Hause ein Müsli. Ich möchte betonen, dass Integration nicht nur in der Schule stattfindet, sondern auch im Wohnzimmer der deutschen Mittelschicht. Einige der Eltern meiner deutschen Freunde haben nicht nur ihre Kinder nach den Hausaufgaben gefragt, sondern auch mich. Und dann haben wir sie gemeinsam gemacht.

Wie war das bei Ihnen? Sind Sie in Ihrer Kindheit Opfer von Diskriminierungen geworden?

Das hängt davon ab, wie man Diskriminierung definiert. Ist es eine Diskriminierungserfahrung, wenn die Klassenlehrerin zu meiner Mutter am Elternabend sagt: "Beim Cem ist es ja eh' egal, ob er sitzenbleibt oder nicht. Den werden sie ja sowieso in die Türkei schicken."

Das hat die Lehrerin bestimmt nicht gemacht, um mich zu diskriminieren, oder weil sie Türken nicht mag. Es war für sie einfach selbstverständlich. Der Türke geht irgendwann wieder.

Oder ein anderes Beispiel: In der vierten Klasse - die Schüler sollten in eine weiterführende Schule geschickt werden - hat der Lehrer gefragt, auf welche Schule man denn möchte. Bei der Hauptschule habe ich nicht gestreckt (strecken bedeutet "sich melden" - auf schwäbisch, Anm. d. Red.), bei der Realschule auch nicht. Beim Gymnasium hab ich mich dann gemeldet. Der Lehrer hat dann die ganze Klasse darauf aufmerksam gemacht. Alle Schüler wendeten sich mir zu und brachen in tosendes Gelächter aus.

Formal hatten sie natürlich Recht. Bezogen auf meine Schulleistungen war es ein Witz, dass ich den Anspruch hatte, aufs Gymnasium zu gehen. Außerdem: Wie viel türkischstämmige Kinder sind denn damals schon aufs Gymnasium gegangen? War das eine Diskriminierung? Dass es für mich nicht sehr schön war, muss ich nicht betonen. Ausgerechnet der will aufs Gymnasium, dachten sie wohl - das hämische Lachen hatte ich noch lange in den Ohren.

Hamburg, seit diesem Jahr unter grün-schwarzer Regierung, hat Hauptschule und Realschule zusammengelegt. Ein Modell für den Rest der Republik?

Die Hauptschule ist nicht einfach schlecht geschminkt, sie ist tot. Und je früher man das einsieht, desto besser für die Lehrer, Eltern und vor allem die Schüler. Auch künftig muss es eine schulische Ausbildung geben, die in den Beruf überleitet. Aber die Hauptschule leistet das nicht mehr.

Wird der Hauptschulabschluss zum Stigma?

Klar, ich war selber ein Jahr auf der Hauptschule. Das ist nichts, womit man sich schmückt. Insofern stigmatisiert man die Kinder natürlich auch. Es ist eben etwas anderes, ob man sagt, ich habe 1954 die Hauptschule abgeschlossen oder ob man 2008 sagt, ich hab einen Hauptschulabschluss. Es ist nicht mehr dasselbe. Auch die Berufswelt hat sich verändert: Wir leben in einer Bildungsgesellschaft, da werden andere Bildungsprofile benötigt, auf die die Hauptschule keine Antwort geben kann. Und außerdem haben wir doch ohnehin zu wenige Akademiker in Deutschland, darauf weist uns auch die OECD hin. Wir ignorieren die Talente unserer Kinder und Jugendlichen und fördern sie nicht. Manchmal heißt es, dass doch nicht jeder studieren könne. Stimmt. Aber es gab mal eine Zeit, da hat man das auch von Mädchen gesagt. Die sollten doch später bitte hinterm Herd sein, hieß es in den 1960ern noch. Heute sind sie in der Schule besser als die Jungs.

Sie sind Außenpolitischer Sprecher ihrer Fraktion. Ihre Partei muss im Bundestag Mitte Oktober über eine weitere Entsendung von 1000 Bundeswehrsoldaten abstimmen. Kann man sich auf ein ähnliches Drama bei den Grünen wie im vergangenen Jahr einstellen, als sich die Partei auf einem Sonderparteitag einen heftigen Streit lieferte?

Anders als wir Grüne drückt sich die Bundesregierung systematisch um eine wirkliche Debatte um den Sinn und Zweck des Einsatzes in Afghanistan. Doch das eigentliche Drama findet in Afghanistan statt: Dass Menschen sterben, dass die Taliban erstarken und Al Qaida nach wie vor nicht besiegt ist. Was wir dort geleistet haben, gehört kritisch auf den Prüfstand. Es kann nicht unser Ziel sein, dass  für jeden getöteten Taliban zwei neue nachkommen. Die Entwicklung im Süden und Südwesten des Landes zeigt, dass wir mit dem Vorgehen der Amerikaner nicht vorankommen.

Das Mandat, mit dem sich die Bundesregierung im Norden beteiligt und das Mandat der Amerikaner im Südwesten müssen zusammengelegt werden. Und es muss klar sein, dass jetzt der Wiederaufbau Vorrang hat. Dazu gehört, dass wir den Menschen in Afghanistan eine Lebensperspektive geben - jenseits vom Opiumanbau.

Wie schätzen Sie die Lage im Kaukasus ein?

Georgien hat uns wieder einmal vor Augen geführt, wie sehr wir eine gemeinsame europäische Außenpolitik brauchen. Die Präsidenten Estlands, Polens und anderer Länder haben in der Hauptstadt Georgiens die uneingeschränkte Solidarität mit Präsident Saakaschwili gezeigt - während andere europäische Länder zunächst vor Kritik an Rrussland zurück geschreckt sind. Europa ist bislang nicht tritt nicht mit einer Stimme aufgetreten und schwächte sich dadurch selbst.

Die Balten und Osteuropäer gehören zu einem Europa, das - aus verständlicher Erfahrung heraus - sehr russlandkritisch ist. Und Deutschland und Frankreich vertreten eher die Position, dass man es mit der Kritik an Russland nicht übertreiben dürfe.

Diese Position führt aber nicht weiter, denn Russland verhärtet sich weiter und setzt eher auf neoimperiale Gesten, indem es versucht, in der früheren Einflusszone der Sowjetunion eine Art "cordon sanitaire" zu errichten. Das heißt einen Bereich, wo Russland das Sagen hat und den Ländern vorschreibt, ob sie gegebenenfalls in andere Militärbündnisse dürfen und wie sie sich politisch ausrichten. Das ist nicht akzeptabel. Ich würde mir wünschen, dass die Europäische Union das klar und unmissverständlich ausdrückt.

Und welcher US-Präsident wäre für Deutschland am besten?

Da muss man, glaube ich, nicht lange nachdenken. Das wäre sicherlich Barack Obama - in vielerlei Hinsicht. Joschka Fischer hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass er sich nicht sicher ist, ob McCain die moderne Welt versteht und ob er nicht zu sehr vom Denken des Kalten Krieges geprägt ist. Diese Bedenken habe ich auch. Ich sehe aber auch, wenn ich mir seine Berater aus dem neokonservativen Lager anschaue, dass es eine Art dritte Amtszeit George Bush geben könnte. Und das ist nun wirklich das Letzte, was wir brauchen können. Und ich hoffe, die Mehrheit der US-Amerikaner sieht das ähnlich.

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