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Etwas unentspannt nach der Wahl - Präsident Erdogan.

© Reuters

Die Türkei nach der Wahl: Chaos als Chance

Nach der Wahl in der Türkei: Ein bloßes Weiter-So ist unmöglich. Dabei könnte die Schlappe der Erdogan-Partei AKP durchaus heilsam für das Land sein. Zum Beispiel im Syrienkonflikt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Die Jahre der Einparteienherrschaft in der Türkei sind vorüber. Nun steht die schwierige Suche nach einer Regierungskoalition bevor. Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist schwer getroffen, während der Erfolg der Kurdenpartei HDP all jenen Auftrieb gibt, die sich von der Erdogan-Partei in letzter Zeit unterdrückt fühlten. Doch die Unsicherheit nach dem Wahltag könnte für das Land eine neue Chance sein.

Innenpolitisch dürften die AKP und Präsident Erdogan nun in ihren autoritären Tendenzen gebremst werden. Da sie ihre Regierungsmehrheit im Parlament verloren haben, sind sie auf Hilfe angewiesen. Die Suche nach Bündnispartnern wird nicht einfach, weil es erhebliche inhaltliche Differenzen zwischen den Parteien gibt und im Wahlkampf besonders von der AKP viel Porzellan zerschlagen worden war. Möglicherweise wird die AKP am Ende auch ohne Regierungsbeteiligung dastehen, wenn sich die anderen drei im Parlament vertretenen Parteien auf eine Zusammenarbeit gegen die Erdogan-Partei verständigen.

Wie immer das Gerangel ausgeht: Mit derselben Verachtung für die Meinung anderer Akteure wie bisher wird die Erdogan-Partei nicht weitermachen können. Der Wähler hat der sieggewohnten Partei einen gehörigen Schuss vor den Bug verpasst. Zugleich hat das Selbstbewusstsein der Erdogan-Gegner zugenommen. Das gilt nicht nur für die HDP, sondern auch für die Zivilgesellschaft. Zehntausende Freiwillige engagierten sich als Wahlbeobachter und verhinderten nach einigen Berichten mancherorts Manipulationen. Selbst regierungsnahe Kommentatoren in der türkischen Presse fordern Selbstkritik und Erneuerung von der AKP. Ein bloßes Weiter-So erscheint nach dem Erdbeben vom Sonntag unmöglich.

Das Land hatte sich unter der AKP regionalstrategisch immer weiter isoliert

Dasselbe gilt für die Außenpolitik. Zum Beispiel im Syrienkonflikt: Möglicherweise wird sich die Türkei unter einer neuen Regierung von der bisherigen kompromisslosen Forderung nach einem Sturz von Präsident Baschar al Assad lösen. Es ist kaum vorstellbar, dass künftige Koalitionspartner der AKP, die in der Opposition mutmaßliche Waffenlieferungen Ankaras an radikale Gruppen in Syrien anprangerten, in der Regierungsverantwortung genau diese Politik mittragen werden.

Ironischerweise könnte die nach den Wahlen entstandene Situation der politischen Unsicherheit der Türkei auch helfen, ihren Ruf im Nahen Osten aufzupolieren. Das Land hatte sich unter der AKP in den vergangenen Jahren regionalstrategisch immer weiter isoliert. Von der zur Zeit des Arabischen Frühlings viel beschworenen Vorbildfunktion einer muslimischen Demokratie ist nicht viel übrig.

Wenn es der Türkei nun aber gelingt, unter Beachtung des Wählerwillens die schwierige Koalitionssuche erfolgreich zum Abschluss zu bringen, könnte genau diese Vorbildrolle neu belebt werden. Der Nahe Osten ist keine Weltgegend, in der freie Wahlen und der geordnete Übergang der Macht vom einen demokratisch legitimierten Akteur auf den anderen alltäglich sind. Die Türkei könnte der Region zeigen, wie man mit schwierigen politischen Situationen fertigwird, ohne dass die Panzer rollen.

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