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Völlige Zerstörung. Nach den jüngsten Anschlägen in Bagdad inspizieren Sicherheitskräfte die Orte, an denen die Sprengsätze explodierten.

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Chaos im Irak: Nach dem Truppenabzug eskaliert die Gewalt

Schiiten und Sunniten mi Irak liefern sich neue Machtkämpfe. Die Hoffnung, dass das Land aus eigener Kraft eine friedliche Entwicklung nehmen kann, schwindet.

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Vier Tage nach dem Abzug der letzten US-Soldaten aus dem Irak hat eine Serie von Sprengstoff- und Bombenanschlägen Bagdad erschüttert. Viele Menschen starben. Die Gewaltwelle dämpft die Hoffnung, dass das Land aus eigener Kraft eine friedliche Entwicklung nehmen kann. Die Gewaltorgie scheint die Befürchtung zu bestätigen, dass der Irak ohne die stabilisierende Wirkung der Präsenz westlicher Truppen in den Bürgerkrieg zurückzufallen droht.

Auslöser der Attentatswelle sind Machtkämpfe zwischen Schiiten und Sunniten in der Regierung von Ministerpräsident Nuri al Maliki. Sie stützt sich auf eine komplizierte Koalition mit großen inneren Spannungen und erlebt die heftigste Krise seit ihrem Amtsantritt 2010. Dahinter steckt der prinzipielle Machtkampf zwischen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen Minderheit. Er wird verschärft durch den Versuch des Iran, über schiitische Fraktionen mehr Einfluss im Irak zu gewinnen.

Die neue Gewaltwelle erinnert an die blutigen Kämpfe zwischen den Religionsgruppen in den Jahren 2004 bis 2008. Sie reicht bisher weder von den Opferzahlen noch der Brutalität an die damalige Dimension heran, zeigt aber mögliche Risiken – falls der Konflikt nicht beigelegt wird.

Den Krieg, der 2003 zum Sturz Saddam Husseins führte, hatte die internationale Koalition unter Führung der USA dank ihrer militärischen Überlegenheit rasch gewonnen. Es gelang ihr aber nicht, den Irak dauerhaft zu stabilisieren. Anfangs richteten sich die Anschläge gegen westliche Truppen. Bald wurde daraus ein Bürgerkrieg zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen, die vor allem Angehörige der anderen Volksgruppe töteten und aus Wohngebieten vertrieben. Erst als die USA ihre Truppen 2008 verstärkten, ließ die Gewalt nach. Parallel vermittelten sie zwischen den politischen Fraktionen und den Milizen und erreichten eine sorgfältig ausbalancierte Teilung der Macht zwischen den Religionsgruppen.

Der schiitische Ministerpräsident Maliki hat einen sunnitischen und einen kurdischen Stellvertreter, der kurdische Präsident einen schiitischen und einen sunnitischen Vizepräsidenten zur Seite. Parlamentspräsident ist ein Sunnit. Die sunnitische Minderheit hatte seit der Gründung des modernen Staates 1920 bis hin zu Saddam Hussein die Macht inne. Seit der Einführung demokratischer Wahlen hat die schiitische Mehrheit mehr Einfluss und nutzt das häufig dazu, sich für ihre frühere Benachteiligung zu rächen. Die Sunniten hatten die ersten Parlamentswahlen nach Saddams Sturz 2005 boykottiert. Bei der zweiten Wahl 2010 erzielte ihr Irakija-Block 82 der 325 Sitze im Parlament. Er wurde aber durch Malikis Nationale Allianz mit ihren 159 Abgeordneten in den Hintergrund gedrängt.

Die US-Truppen hatten wie eine Garantiemacht für die Machtaufteilung gewirkt. Sie fehlt nun. Gleich nach dem Abzug entließ Regierungschef Maliki seinen sunnitischen Stellvertreter Salih al Mutlak. Der hatte Maliki zuvor mit Saddam verglichen und ihm einen selbstherrlichen Umgang mit der Macht vorgeworfen. Parallel stellt ein Gericht in Bagdad einen Haftbefehl gegen den sunnitischen Vizepräsidenten Tarik al Haschimi wegen angeblicher Terroraktivitäten aus. Der Politiker floh daraufhin in das von den Kurden kontrollierte Autonomiegebiet im Nordirak. Maliki forderte von den Kurden die Auslieferung des Politikers und versprach einen fairen Prozess. Das Vorgehen gegen sunnitische Politiker erzürnt und beunruhigt deren Anhänger.

Die Sunniten lehnten am Mittwoch einen Vorschlag Malikis ab, parteiübergreifende Gespräche abzuhalten. Maliki sei der Grund der Krise und trage nichts zur Lösung bei, begründete der wichtigste sunnitische Block im Parlament die Ablehnung. Maliki drohte den Sunniten mit dem Ausschluss von der Macht, sollten sie die Koalition platzen lassen.

Die USA hatten damit gerechnet, dass es nach dem Abzug zu verschärften Machtkämpfen zwischen Schiiten und Sunniten kommen würde. Das Tempo, in dem die Spannungen aufflackern und der feindliche Umgangston innerhalb der Regierungskoalition hat die Regierung von Präsident Barack Obama jedoch überrascht. US-Botschafter James Jeffrey, der nach der Abzugszeremonie seinen Weihnachtsurlaub angetreten hatte, musste nach Bagdad zurückkehren, um zwischen den irakischen Politikern zu vermitteln. Der neue CIA-Chef David Petraeus, der zuvor das militärische Oberkommando in der Region hatte, wurde am Dienstag in den Irak geschickt, um bei der Suche nach einer politischen Lösung zu helfen.

US-Kommentatoren machen überwiegend Premier Nuri al Maliki für die Eskalation verantwortlich. Er habe den Streit mit den Sunniten auf unnötige Weise forciert. Viele US-Medien fragen, inwieweit der Iran zu der Entwicklung beitrage. Der geplante Stationierungsvertrag, der es den US-Truppen erlaubt hätte zu bleiben, war an Klauseln zu deren rechtlicher Stellung gescheitert. Nach Darstellung von US-Medien hatten schiitische Politiker, die unter iranischem Einfluss standen, gedroht, die Koalition platzen zu lassen, wenn der Stationierungsvertrag zustande gekommen wäre.

(mit AFP /dpa)

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