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© dpa

China: Die Ausgeschlossenen

Rund 240 Millionen Wanderarbeiter aus ländlichen Regionen gibt es China. Sie und ihre Familien erhalten praktisch keine Sozialleistungen. Das soll sich ändern.

Die weltweite Wirtschaftskrise hat Chinas Führung wachgerüttelt. Millionen chinesische Wanderarbeiter verloren im vergangenen Jahr ihren Job – und da sie kein Anrecht auf Sozialleistungen hatten, stieg in Peking die Angst vor Unruhen. Inzwischen gilt die soziale Schieflage als Problem für die angestrebte „harmonische Gesellschaft“. Damit besteht offiziell Handlungsbedarf.

Die „Initiative für eine offene Verfassung“ (Gongmeng), ein Zusammenschluss aus Anwälten und Wissenschaftlern in Peking, macht vor allem das strenge chinesische Meldesystem (Hukou-System) für die sozialen Probleme verantwortlich, denn nur, wer offiziell als Stadtbürger anerkannt wird, hat ein Anrecht auf die Leistungen der finanzkräftigen Metropolen wie zum Beispiel Zuschüsse für Arztbesuche und Medikamente. Allein in Peking gibt es geschätzte sechs Millionen Menschen ohne dauerhafte Aufenthaltsberechtigung. Die meisten von ihnen sind Wanderarbeiter.

Etwa eine Woche vor dem diesjährigen nationalen Volkskongress kritisierte Gongmeng, dass auch Kinder von Wanderarbeitern benachteiligt seien. „Selbst wenn sie in Peking geboren sind, bekommen sie kein Hukou“, sagt Xu Zhiyong von Gongmeng. Viele müssten in andere Provinzen zurück, wo sie schlechtere Bildungsmöglichkeiten vorfänden. Doch die Situation von Pekings Schülern ohne Hukou ist nur ein Beispiel von vielen. Über Jahrzehnte hat das Meldesystem das extreme soziale Ungleichgewicht zwischen Stadt- und Landbewohnern zementiert. Teilweise seit mehreren Generationen in den Metropolen sesshaft, haben viele Menschen keine Möglichkeit, Stadtbürger zu werden. Chinas Sozialsystem hat die Bevölkerung in verschiedene Klassen geteilt. An deren unterster Stelle stehen die Saisonarbeiter aus ländlichen Gebieten, die häufig ohne Arbeitsvertrag und sozialen Schutz in den Fabriken der Großstädte schuften. Das Hukou-System ist nicht nur ungerecht, es macht Chinas Bevölkerung auch unflexibel. Denn selbst wer nur von einer Großstadt in die nächste umziehen möchte, kann das nicht ohne Weiteres. Ausnahmen sind nur für Gutausgebildete und Reiche möglich.

Nicht nur die Pekinger Initiative Gongmeng sieht in der strikten Melderegelung einen Fehler im System. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht das ähnlich. In einem aktuellen Länderbericht fordert sie die schrittweise Aufhebung des Hukou-Systems. So könnten Hindernisse in der Mobilität von Arbeitern beseitigt und ihr Zugang zu Sozialsystemen verbessert werden. Die Kosten für Renten und Gesundheitswesen sollten stärker zentralisiert werden. „China kann sich die zusätzlichen Ausgaben leisten, weil seine öffentlichen Finanzen weiter stark sind“, heißt es in dem Bericht. Mit einem besseren Sozialsystem könnte die hohe Sparrate der Chinesen gesenkt und der heimische Verbrauch angekurbelt werden.

Die chinesische Regierung ist aber noch weit von einer Aufhebung des Hukou-Systems entfernt. Zwar gibt es Stimmen, die zumindest dessen Aufweichung vorantreiben, doch die Städte in Ballungsräumen sind bisher nicht bereit, ihre Kassen mit neuen Bewohnern zu belasten. Chinas Führung will die ungerechte Verteilung der Sozialleistungen daher von anderer Seite in den Griff bekommen. Ende Januar kündigte sie an, das Budget für die Entwicklung ländlicher Regionen deutlich zu erhöhen. Am Dienstag erklärte ein Regierungsberater, dass die chinesische Führung jungen Wanderarbeitern mehr Sozialleistungen zukommen lassen möchte. „Die Regierung wird die Infrastruktur in kleineren Städten optimieren, so dass Wanderarbeiter bessere Bildungsmöglichkeiten für ihre Kinder, Beschäftigungschancen und eine bessere Sozialabsicherung erhalten“, sagt Han Jun, Experte der chinesischen Regierung. So will man Wanderarbeitern und deren Familien den Weg zurück in ihre Heimatprovinzen erleichtern und die Zuwanderung in Chinas Metropolen stoppen.

Xu Zhiyong von Gongmeng gehen die Absichtserklärungen der chinesischen Regierung nicht weit genug. „Jeder, der in Peking arbeitet, sollte nach einer gewissen Zeit zumindest die Möglichkeit haben, hier ein Hukou zu bekommen. Er sollte die gleichen Sozialleistungen erhalten wie alle anderen Bewohner der Stadt“, sagt Xu. Solange das Hukou-System für eine Zweiklassengesellschaft sorgt, würden auch Investitionen in Chinas Sozialwesen keine gerechtere Verteilung der Leistungen bringen.

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