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Politik: China entdeckt seine Bauern

Für Peking geht Wachstum nicht mehr über alles. Sozialprogramme sollen die Armut auf dem Land lindern

Ein Problem des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao hätte mancher Kollege im Westen gern: Die Wirtschaft wächst zu schnell. Daher plädierte Wen zum Auftakt des Volkskongresses für ein „koordiniertes“ und langsameres Wachstum. Im Vordergrund soll in nächster Zeit anderes stehen: „Die Lösung der Probleme der Landwirtschaft, der Dörfer und Bauern hat höchste Priorität in all unserer Arbeit“, sagte Wen am Freitag in Peking. Statt wie bisher allein mit Wirtschaftswachstum alle Probleme lösen zu wollen, strebt der neue Regierungschef eine „ausgewogene und nachhaltige Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft“ an.

Der Ausbruch der lebensgefährlichen Lungenkrankheit Sars vor einem Jahr „hat das Missverhältnis zwischen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung enthüllt“, sagte Wen vor den knapp 3000 Delegierten. Trotz der Epidemie wuchs Chinas Wirtschaft im vergangenen Jahr um 9,1 Prozent. Wegen Inflations- und Überhitzungsgefahren gab Wen für dieses Jahr ein Wachstumsziel von 7,0 Prozent vor. Von dem enormen Wachstum profitieren bisher vorwiegend die Metropolen, nicht aber die rund 900 Millionen Menschen auf dem Lande. Angesichts wachsender Unzufriedenheit versprach Wen nun höhere Einkommen für die bisher Benachteiligten: Statt die Konjunktur mit Staatsausgaben in Infrastrukturmaßnahmen weiter anzukurbeln, wird künftig mehr Geld in soziale Vorhaben, Investitionen auf dem Lande, rückständige Regionen und von Arbeitslosigkeit geplagte alte Industriezentren fließen.

Für viele Chinesen war die live im Fernsehen und Radio übertragene Rede die erste Gelegenheit, einen näheren Blick auf ihren vor einem Jahr ins Amt gekommenen Regierungschef zu werfen. Doch selbst wenn Wen gelegentlich die Stimme hob, konnte er mit seinem monotonen Vortrag kaum Begeisterung entfachen.

Wen Jiabao gehört zusammen mit Staatschef Hu Jintao zu einer neuen Generation von Führern, die China als Bürokraten regieren. Mit den ideologischen Zielen ihrer kommunistischen Vorgänger haben sie nur wenig gemein. Sie sind Pragmatiker. Sozialismus ist für sie nur noch ein Schlagwort, mit dem sie den Machtanspruch der allein regierenden KP rechtfertigen. Um China wirtschaftlich weiter voranzubringen, setzen sie auf freie Marktwirtschaft und Privatisierung. Politisch halten sie jedoch an der engen Kontrolle durch den Staat fest.

Vor dem Volkskongress räumte Wen jetzt „Unzufriedenheit“ im Volk ein. Die Kluft zwischen Arm und Reich wachse. Das will die Regierung durch Finanzhilfen korrigieren: Die landwirtschaftlichen Steuern sollen jährlich um einen Prozentpunkt fallen und innerhalb von fünf Jahren gestrichen werden. Umgerechnet drei Milliarden Euro sollen zusätzlich in die Landwirtschaft investiert werden. Eine Milliarde Euro an direkten Subventionen fließt an Getreideproduzenten, um die rückläufige Ernte anzukurbeln. Chinas neue Führer wissen, dass sie auf das Wohlwollen im Volk angewiesen sind. Denn je weiter sich das Land vom Sozialismus entfernt, desto schwieriger wird es, den Machtanspruch der KP zu rechtfertigen. (mit dpa)

Harald Maass[Peking]

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