zum Hauptinhalt

Politik: Chiracs Sündenbock

Frankreichs Staatspräsident sucht nach dem „Non“ zur EU-Verfassung einen neuen Premier

Von einer schwerwiegenden innenpolitischen Krise sprechen alle in Frankreich. Nur wie sie zu lösen ist, darüber herrschen höchst unterschiedliche Meinungen. Nach dem klaren Votum der Franzosen gegen die EU-Verfassung – knapp 55 Prozent stimmten mit Nein – ist die Position von Staatspräsident Jacques Chirac am deutlichsten geschwächt. Im zehnten Jahr seiner Amtszeit werten Medien, politische Beobachter, Oppositionelle und selbst Weggefährten das Nein als schallende Ohrfeige für den Staatschef.

Wochenlang hatte Chirac bei beschwörenden Fernsehauftritten versucht, die Franzosen zur Annahme der EU-Verfassung zu bewegen. „Halbherzig“, wie ihm seine Gegner heute vorwerfen, auf jeden Fall erfolglos. Die linksliberale Zeitung „Libération“ schwärmte bereits vom Beginn der „Nach-Chirac-Ära“. Die Opposition forderte am Tag nach dem europäischen Erdbeben seinen Rücktritt oder zumindest die Parlamentsauflösung, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen.

Chirac selbst hat sich offenbar für das „Aussitzen“ der massiven Probleme entschieden. Obwohl 41 Prozent ihr Nein bei dem Referendum mit sozialen Problemen begründeten, allen voran die stetig steigende Arbeitslosigkeit, glaubt er, die Krise mit einer Regierungsumbildung lösen zu können. Im Stundentakt ließ er seine politischen Vertrauten im Elysée-Palast aufmarschieren, unter ihnen Premierminister Jean-Pierre Raffarin, der nach am Nachmittag noch nicht offiziell bestätigten Berichten bereits sein Rücktrittsgesuch überreicht haben soll. Am heutigen Dienstag werde Chirac seine Entscheidung über eine Regierungsumbildung bekannt geben, teilte das Präsidialamt mit.

Raffarin wäre damit zwar eine Art Sündenbock, aber der einzige im Umfeld Chiracs, der die Zeichen der Zeit verstanden hat. Denn das „So nicht“ landete nicht zum ersten Mal in den Wahlurnen. Chirac und seine UMP-Partei verloren im vergangenen Jahr haushoch die Regional- und Europawahlen zugunsten der Sozialisten. Die rote Karte des Volkes ließ der Chef im Elysée-Palast damals unter den Tisch fallen. Nun hat er die Quittung, zu Lasten Europas.

Am Montag beschäftigte sich das politische Frankreich mit der Frage, wen Chirac als „Retter“ mitten im Desaster auserwählen würde. Schon vor dem Referendum kursierten verschiedene Namen: Verteidigungsministerin Michèle Alliot- Marie hätte wegen ihrer unambitionierten, natürlichen Autorität Chancen, auch Arbeitsminister Jean-Louis Borloo, vor allem aber Dominique de Villepin. Der smarte Innenminister, Poet und Napoleon-Verehrer, gilt als enger Vertrauter Chiracs und wäre für ihn der einfachste Kandidat, weil er bislang keinerlei Anstalten machte, sich als Konkurrent bei den Präsidentschaftswahlen 2007 aufzubauen. Letztlich könnte Chirac aber sogar seinen Gegenspieler Nicolas Sarkozy küren. Der Vollblutpolitiker, Vorsitzender der UMP, hat als Innenminister mit seiner brachialen Politik zur inneren Sicherheit bereits etliche Kohlen aus dem Feuer geholt und damit bei der Bevölkerung gepunktet. Zudem könnte Chirac hoffen, dass sein Mitbewerber für den Präsidentensessel angesichts des innenpolitischen Reformbedarfs an Beliebtheit verliert.

Im Personalpoker geht es bei den Sozialisten nicht weniger zimperlich zu. Abgeschlagen ist der wenig charismatische Parteichef Francois Hollande, dem es trotz parteiinternen Votums für die EU-Verfassung nicht gelang, seine Schäfchen in der Partei zusammenzuhalten. Der wirkliche Sieger des gescheiterten Referendums ist insofern Laurent Fabius. Der frühere Premier betrieb die Spaltung der Sozialisten und führte mit Argumenten wie Sozialdumping und Abwanderung von Arbeitsplätzen seinen Nein- Kurs unbeirrt fort.

Sabine Heimgärtner[Paris]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false