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Politik: Das gemeine Volk

NEUE WAHL–UMFRAGEN

Von Bernd Ulrich

Demoskopie ist eine Wissenschaft. Eine Wissenschaft für sich. Gestern haben die Institute präzise herausgefunden, was die Deutschen wählen würden. Unglücklicherweise haben sie alle etwas anderes herausgefunden. Bei den einen hat die SPD nur 32 Prozent, bei den nächsten 38. Jene sehen die FDP in den luftigen Höhen von 13, bei diesen sinken sie hinab auf acht Prozent. Was ist bloß los mit den Volksbeschauern? Machen sie gar Wahlkampf?

Was ist los mit dem Volk, könnte man zurückfragen. Offensichtlich wissen die Demoskopen nicht, was der Wähler will, weil der das selbst nicht weiß. Fast rührend mutet es an, wenn bei der berüchtigten Sonntagsfrage „auch taktische Überlegungen der Wähler berücksichtigt werden“. Da fragt man sich doch, was für Taktiken das bei diesem verworrenen Wahlkampf sein sollen. Wählen sie PDS, um Stoiber zu verhindern? Und welchen Kanzler bekommt einer, der die FDP wählt? Ganz schön kompliziert. Außerdem werden die Wähler, die sich mit solchen Überlegungen herumquälen, den Umfragern auch nur taktische Antworten geben, weil sie wissen, dass Umfragen Wahlen beeinflussen.

Das Volk, das gemeine, hat im Übrigen völlig Recht mit seiner Unentschiedenheit. Denn was die Volksparteien aufführen, macht die Entscheidung fast unmöglich. Ob Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber, beide sind in der Lage, innerhalb von zwei Tagen drei Meinungen zu vertreten. Und die Bürger spüren: Wenn sich Schröder für militärische UN-Aktionen gegen den Irak ausgesprochen hätte, dann hätte Stoiber vor Abenteuern gewarnt. Wenn der Kanzler für die Flutopfer in die Neuverschuldung gegangen wäre, dann hätte der Kandidat seine Steuerreform verschoben. Die Herren unterscheiden sich nur taktisch.

Und sie sind etwas durcheinander. Stoibers Statements zu Ökosteuer, Homoehe und Atomkraftwerken zeigen das ebenso deutlich wie Schröders schnell widerrufene Steueramnestie. Grundlinien sind in all dem kaum erkennbar. Wie soll sich der Wähler da entscheiden?

Immerhin bestätigen die Umfragen nach der Flut vage, was man schon vermuten konnte: dass die Katastrophe der SPD eher nützt, Union und FDP eher schadet. Nun hoffen die Oppositionsparteien, dass dieser Effekt zusammen mit der Flutwelle alsbald in der Nordsee verschwinden wird. Dafür spricht wenig. Der politische Katastrophenstress hat die Schwierigkeiten von Union und FDP nur freigelegt, nicht erzeugt.

Das Hauptproblem der Union wird immer mehr ihr Kandidat. Dieser hektische Wahlkampf mit häufig wechselnden Themen und Meinungen schadet dem bürgerlichen Stoiber mehr als dem Chef der rot-grünen Koalition. Schröder kann das eben besser. Er wirkt am Ende seiner Tänzeleien wie eine deutsche Eiche, während Stoiber auch dann noch unsicher wirkt, wenn sich die SPD-Kampa in heller Auflösung befindet. Stoibers rätselhafte Grundunsicherheit lässt sich schwerlich übersehen: ein unsicherer Mann in unsicheren Zeiten.

Das Handicap der FDP wiederum ist nicht ihr Vorsitzender, sondern ihre Strategie. Der Versuch, durch Stärkeprojektion Stärke zu erzeugen und daraus zu begründen, dass es keine Koalitionsaussage gibt („egal, wer unter uns Kanzler wird“ ) bricht gerade zusammen. Die FDP wird den 18 Prozent nicht nahe kommen, und sie wird die Frage des Wählers, ob Stoiber oder Schröder Kanzler werden soll, nicht mit einem: Sag ich nicht! beantworten können. Das treibt Wechselwähler zu den Originalen, zu Union und SPD. Die FDP riskiert auch, dass viele zu ihr sagen: Gewogen und für zu leicht befunden.

So offen ist die Wahl. In unserer Not lesen wir weiter: Umfragen.

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