zum Hauptinhalt

Politik: "Das ist für uns ein Feiertag"

ISTANBUL . Es könnte sein letzter Gruß gewesen sein.

ISTANBUL . Es könnte sein letzter Gruß gewesen sein. Als sich Abdullah Öcalan im Gerichtssaal von Imrali am Dienstag nach der Urteilsverkündung zum zum Gehen wandte, winkte er kurz seinen Verwandten und Anwälten im Saal zu. Ruhig und äußerlich unbewegt hatte der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) das Todesurteil entgegengenommen. Auch er wußte, daß dieser Richterspruch, der um 9 Uhr 34 verkündet wurde, praktisch unausweichlich war. Nach der türkischen Gesetzeslage konnte das Gericht nicht anders, als ihn wegen Hochverrats und Separatismus zum Tode zu verurteilen.

Nur eine gute Stunde dauerte die neunte und letzte Sitzung im Prozeß auf Imrali, doch die Angehörigen der PKK-Opfer im Saal konnten es kaum abwarten: In dem Moment, in dem der Vorsitzende Richter Turgut Okyay das Urteil verlesen hatte, brachen sie in lautes Jubelgeschrei aus und stimmten - leicht dissonant - die türkische Nationalhymne an. Der sonst so beherrschte Okyay ließ durch seinen Gesichtsausdruck in diesem Moment erkennen, daß ihm diese spontane Entladung patriotischer Rachegefühle überhaupt nicht recht war.

Sobald sich die Kunde vom Urteil verbreitete, fielen sich auch die vielen tausend Verwandten von PKK-Opfern, die sich in der Hafenstadt Mudanya in der Nähe Imralis versammelt hatten, weinend in die Arme. Viele Menschen schwenkten türkische Fahnen, feierten ihr Land in Sprechchören und wünschten Öcalan die Pest an den Hals. Imrali solle zu Öcalans Grab werden, riefen sie, und: "Für die Märtyrer ist heute ein Feiertag." Als Märtyrer werden im offiziellen türkischen Sprachgebrauch die Opfer der PKK bezeichnet.

Überall waren türkische Fahnen zu sehen. Sogar die Fähre, die Journalisten und andere Prozeßteilnehmer nach dem Urteil von der Insel zurück in die Hafenstadt Mudanya brachte, war mit Fahnen geschmückt. Der Vorsitzende der Dachverbands der Hinterbliebenen von PKK-Opfern forderte eine möglichst rasche Vollstreckung des Urteils. Währenddessen wurde Öcalan nach seinem möglicherweise letzten öffentlichen Auftritt zurück in seine Zelle auf Imrali gebracht: Wenn er nach dem Berufungsverfahren und der Entscheidung des türkischen Parlaments über sein Schicksal nicht hingerichtet wird, dürfte er für immer hinter türkischen Gefängnismauern verschwinden.

Auch in anderen Städten im Westen der Türkei waren viele Menschen erleichtert über das seit der Festnahme Öcalans vor vier Monaten erwartete Todesurteil. "Ich weine dem Teufel nicht nach", sagte ein junger Mann in Istanbul. Eine Frau nannte den PKK-Chef einen "Skorpion" und eine "Schlange". Andere freuten sich: "Wir haben von Anfang an der Justiz vertraut."

Da sind die Gegner Öcalans aber nicht die einzigen. Die Verteidiger des PKK-Chefs wollen nach dem Urteil vor dem Obersten Gerichtshof in Ankara versuchen, die Entscheidung doch noch kippen zu lassen. Die Chancen dafür stehen aber schlecht. Denn der Vorsitzende Richter Turgut Okyay unterstrich in seiner Urteilsbegründung, es sei zweifellos bewiesen, daß Öcalan einen Teil des türkischen Staatsgebietes abtrennen und darauf einen eigenen Kurdenstaat errichten wollte.

Die von Öcalan zu verantwortenden Morde an vielen Männern, Frauen und Kindern machten es dem Gericht zudem unmöglich, die Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe umzuwandeln. Obendrein entzog Okyay dem Angeklagten auf Lebenszeit die türkischen Bürgerrechte. Leicht machte sich der Richter die Sache aber offenbar trotzdem nicht. Es sei nicht einfach, jemanden zum Tode zu verurteilen, sagte er anschließend - und erklärte, er persönlich lehne die Todesstrafe ab. Das türkische Recht habe ihm aber keine andere Wahl gelassen.

Trotz des Todesurteils und trotz der Feiern der PKK-Gegner ist noch nicht über Leben und Tod des türkischen Staatsfeindes Nummer eins entschieden. Bis zur Entscheidung, ob Öcalan tatsächlich hingerichtet wird, können noch Monate vergehen. Entsprechend zurückhaltend äußerten sich die führenden Politiker in Ankara. "Die Justiz hat ihre Pflicht getan", sagte Präsident Süleyman Demirel. Ministerpräsident Bülent Ecevit, selbst ein Gegner der Todesstrafe, sagte lediglich, er hoffe, das Urteil werde der Türkei zum Wohle gereichen. Auch die PKK weiß, daß das Todesurteil nicht das Ende des Falles Öcalan ist: Ihr Führungsrat rief die Anhänger zur Ruhe auf. Erst wenn Öcalan wirklich hingerichtet werden sollte, will die Kurdenorganisation losschlagen.

Über die Frage, ob ein toter oder ein lebender Öcalan dem Wohl des Landes eher dient, wird in der Türkei heftig diskutiert - noch vor einem Monat wäre diese Debatte angesichts der Wut über den Rebellenchef undenkbar gewesen. Jetzt aber denken prominente Kolumnisten wie Ismet Berkan von der Zeitung "Radikal" laut darüber nach, warum Öcalan ihrer Meinung nicht am Galgen enden sollte. Dabei kommen ganz unterschiedliche Gesichtspunkte zum Tragen. So wird argumentiert, Öcalan dürfe nicht erlaubt werden, sich in den Tod davonzustehlen; vielmehr solle er jeden Tag seines Lebens an seine Untaten erinnert werden. Berkan sieht auch politische Gründe gegen eine Hinrichtung: "Wenn wir ihn hängen, wird die Türkei vom Rest der Welt isoliert, und dann wird sich das Land nach innen kehren und weiter von der Demokratie entfernen."

Wenn am Ende das türkische Parlament über die Vollstreckung des Todesurteils entscheidet, werden auch diese Überlegungen eine Rolle spielen. Öcalans letzer Auftritt vor Gericht am Dienstag war deshalb erst der Beginn des eigentlichen Entscheidungsprozesses in der Türkei.

SUSANNE GÜSTEN

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false