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Im Mittelpunkt des Gedenkens steht Russland. Warum nicht die Ukraine, Weißrussland, das Baltikum - die ersten Opfer?

© Doris Spiekermann-Klaas/Der Tagesspiegel

Das Russland-Bild der Deutschen: Redewendungen an der Wahrheit vorbei

Russlands Präsident Putin lässt ein Propaganda-Institut in Berlin gründen. Ein guter Anlass, darüber nachzudenken, wie Politiker und Medien sich über Russland äußern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Berlins PR-Szene bekommt an diesem Freitag Zuwachs. Offiziell ist natürlich nicht von Propaganda die Rede, sondern vom „Dialog der Zivilisationen“ und einem „Forschungsinstitut“. Die Deutschen dürfen sich fragen, warum Wladimir Putin und sein Vertrauter Wladimir Jakunin Berlin gewählt haben und nicht Paris, Rom oder London. Dort wäre es zwar dringender, die russischen Positionen bekannt zu machen und akademisch zu unterfüttern. Engländer, Franzosen und Italiener sind weniger gut auf Russland zu sprechen. Ihre Außenminister hören „Säbelrasseln“ und „Kriegsgeheul“ nicht bei der Nato. Die übt nur Verteidigung. Russland lässt Angriff trainieren, erst auf die Ukraine, jetzt auf Nato-Ziele. In Moskaus Kalkül sind die Deutschen offenbar hoffnungsvollere Adressaten für die PR-Arbeit.

Leere Worte: Den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen

Warum ist das so? Da muss man nur auf die Redewendungen achten, die unvermeidlich folgen, wenn die Sprache in Deutschland auf Russland kommt. Drei Beispiele aus den jüngsten Tagen:

„Wir dürfen den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen“, heißt es immer wieder beschwörend, auch nach Steinmeiers Klage über „Säbelrasseln“. Der Satz ist nicht falsch, aber inhaltsleer. Er hat ungefähr so viel praktische Bedeutung wie eine tägliche Forderung, Berlin solle morgen den BVG-Verkehr nicht einstellen. An wen richtet er sich? Es gibt keinen ernst zu nehmenden Politiker, der die Gespräche abbrechen will.

Zudem ist der „Faden“, der nicht reißen soll, so dick wie ein Stahlseil. Steinmeier trifft sich gefühlt alle zwei Wochen mit dem russischen Außenminister. Angela Merkel telefoniert jeden Monat mit Wladimir Putin. In der Uno, der Nato, im Europarat, in unzähligen weiteren internationalen Formaten reden Deutsche und andere Vertreter des Westens mit Russen. Nur einige prestigeträchtige Formate – bilaterale Gipfel und der Nato- Russland-Rat – werden vorübergehend vermieden. Das wahre Problem sind nicht zu wenige Gespräche, sondern dass die Gespräche zu nichts führen.

Keine Problemlösung ohne Russland? Mit Russland auch nicht

Ein zweiter Glaubenssatz lautet: Ohne Russland kann man Probleme nicht lösen. Er ist erstens falsch. An ganz vielen drängenden Problemen kann man ohne Russland arbeiten, von deutscher Altersarmut über die Eurokrise und die Flüchtlingsströme im Mittelmeer bis zur Elektromobilität. Zweitens lehrt die Erfahrung umgekehrt: Mit Russland kann man die Probleme, an denen Russland beteiligt ist, auch nicht lösen, jedenfalls derzeit. Das gilt von der Krim und Syrien über den Klimawandel bis zu einer smarten Abwehrstrategie gegen islamischen Terror statt blindem Draufhauen, das nur mehr Terrorwillige produziert, im Kaukasus und in Syrien. Die Attentäter vom Flughafen Ankara stammten aus dem Kaukasus.

In Moskaus Strategie ist Konfliktlösung auch gar nicht das Ziel. Solange ein Konflikt andauert, sitzt Russland am Tisch und hat Einfluss. Eine Lösung hätte zur Folge, dass der Einfluss sinkt. Die „Soft Power“, die im Frieden Einfluss sichert, fehlt Russland. Deshalb bringen seine „Friedenseinsätze“, selbst nach Jahren, keinen Frieden: in Berg-Karabach, Transnistrien, Abchasien, Ossetien ...

Der Krieg begann nicht 1941, sondern 1939: mit dem Hitler-Stalin-Pakt

Drittens folgt in deutschen Gesprächen spätestens hier der Verweis auf die „russischen“ Opfer im Zweiten Weltkrieg. Der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war ein Verbrechen. Der Krieg wurde barbarisch geführt, die Besatzungspolitik war kriminell. Das ist immer wieder in Erinnerung zu rufen. Doch so, wie manche diese Erinnerung pflegen, fragt man sich schon, woher die Geschichtskenntnisse stammen.

Der Weltkrieg begann nicht erst 1941, sondern 1939 mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Die Sowjetunion war Mittäter, ehe sie Opfer wurde.

Warum werden am 22. Juni nicht Ukrainer, Weißrussen, Balten betrauert?

Es ist auch historisch falsch, die vielen Millionen sowjetischen Toten alle zu „Russen“ zu erklären. Die deutschen Truppen fielen zunächst in die Ukraine ein, nach Weißrussland und in die baltischen Staaten. Dort wüteten sie und die SS-Kommandos monatelang, ehe sie überhaupt Russland erreichten. Warum gehen die deutschen Politiker, die gewöhnlich die „russischen“ Opfer betrauern, am 22. Juni nicht auch mal zu Ukrainern, Weißrussen und Balten und zeigen, dass ihnen deren Leid nicht gleichgültig ist?

Es stimmt wohl: Ein „Dialog der Zivilisationen“ könnte helfen. Und ebenso Forschung, die der historischen Wahrheit verpflichtet ist. Aber: Ist das die Absicht von Putins Dialog und Putins Forschung? Bevor die Deutschen sich darauf einlassen, sollten sie den Dialog untereinander suchen: Warum benutzen so viele deutsche Politiker und Medien Redewendungen über unser Verhältnis zu Russland, die mit der Wahrheit damals wie heute recht wenig zu tun haben?

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