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Die dicken Wälzer als Problem? Manche Lehrenden klagen über mangelnde Voraussetzungen ihrer Studierenden.

© Jens Kalaene/dpa, picture alliance / ZB

Bildungsmisere an Hochschulen: Das Schweigen der Lehrenden

„Eigentlich müssten wir die Hälfte der Studierenden durchfallen lassen“, gestehen Lehrende gelegentlich - aber nur im privaten Umfeld. Das reicht nicht, wenn man gehört werden will. Ein Kommentar

Von Caroline Fetscher

An die Adresse ihrer Regierung und ihr Parlament haben 600 italienische Professoren Anfang Februar geschrieben, was hierzulande ein Brandbrief heißt. Die Lehrenden schlagen Alarm: „Viele Studenten können schlecht schreiben – intervenieren Sie!“ Das ist der Tenor der Unterzeichnenden aus den Fachbereichen Sprachwissenschaft, Geschichte, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Philosophie. Sie gehören der renommierten Accademia della Crusca an, seit 1583 in Florenz ansässig als Gesellschaft zur Erforschung und Erhaltung der italienischen Sprache.

Der Aufruf fußt auf der bitteren Erfahrung, dass man es bei vielen Studienanfängern zunehmend mit halb alphabetisierten jungen Leuten zu tun hat, er beklagt Lücken in Grammatik, Lexik und Syntax, Fehlerquotienten, wie sie „selbst bei Drittklässlern an Grundschulen kaum tolerierbar“ wären.

Sicher, Italien. Jenseits der Alpen, umgeben vom Mittelmeer, lebt es sich lockerer, ein Starautor wie Umberto Eco schrieb schon 1977 einen vergnügten Bestseller darüber, wie man sich geschickt durch die wissenschaftliche Abschlussarbeit mogelt. Doch auch hier hört man ähnliche Klagen wie dort. Nur nicht öffentlich. Während einige, wenige Studierende, oft aus dem Bildungsbürgertum, überragend seien, womöglich in höherem Maß als in jeder Generation vor ihnen, gebe es massive Probleme mit der großen Mehrheit. Sie lebt zwar nicht in Italien, aber ebenfalls in Digitalien: In einem sinnfernen Kosmos digital zersplitterter Datenvermittlung.

„Eigentlich müssten wir die Hälfte der Studierenden durchfallen lassen“, gestehen Lehrende gelegentlich im privaten Umfeld. Es fehle an Aufmerksamkeit, an Bereitschaft zur Lektüre größerer Werke. In Vorlesungen sähe man auf den Notebook-Bildschirmen Chatseiten, Ebay, Facebook. „Selten kommen kritische Fragen. Die Studierenden wollen einfach nur durchkommen.“ Einfach nur durchkommen wollen offenbar auch viele der Lehrenden. An der Qualität der Abschlüsse, der Anzahl der Absolventen bemessen sich die staatlichen Mittel sowie Drittmittel der Hochschulen. Wer wollte da das Niveau im eignen Nest bemängeln? Also werden offenbar seufzend Noten geschönt – weg mit Schaden.

Zurückdrehen lässt sich diese Spirale kaum, denn an anderen Hochschulen geht der gleiche Tanz ab. [...] Warten wir ab, dass alle nur noch Einsen bekommen und endlich offen darüber gesprochen wird, wie wertlos Noten geworden sind.

schreibt NutzerIn Nairam

Wenn es Klagen gibt, dann über fehlende Jobs für Akademiker

Gehen Akademiker in Deutschland mit Beschwerden an die Öffentlichkeit, dann, um auf ein wachsendes akademisches Prekariat hinzuweisen, etwa die „Betteldozenten“, Promovierte mit gering entlohnten Lehraufträgen, Habilitierte, die gratis lehren müssen, um ihre Venia Legendi, ihre Lehrberechtigung, aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite schöpfen viel gepriesene Exzellenzinitiativen den Rahm ab.

Das System wurde schon als „akademischer Kannibalismus“ bezeichnet, da es „nicht die wissenschaftliche Konkurrenz, sondern die ökonomische Vernichtungskonkurrenz zwischen den Disziplinen“ fördere. Solange die einen in Forschung und Lehre um ihre pure Existenz bangen, die anderen um die volatile Sphäre der Mittelakquise, halten fast alle still. Angesprochen auf den italienischen Brandbrief, heißt es resigniert bis ungehalten, keiner wolle die Initiative ergreifen, niemand sich selber oder seiner Lehranstalt Chancen vermasseln. Und überhaupt: Woher solle man mitten im hypermodularisierten Betrieb die Zeit für Engagement hernehmen?

Seit einigen Jahren veröffentlichen Lehrerinnen und Lehrer deutscher Schulen – teils anonym, wie „Frau Freitag“, teils unter ihren Namen, wie Stephan Serin oder Philipp Müller („Isch geh Schulhof“) – heiter verzweifelte, oft anrührende Bücher über ihren Alltag. Lehrende an Hochschulen, bei denen die Schüler später landen, äußern sich nicht einmal so. Es fehlt der Mut. 1964 publizierte der Pädagoge und Philosoph Georg Picht seine alarmierende Studie zur „Bildungskatastrophe“, ein Jahr darauf der Soziologe Ralf Dahrendorf das Plädoyer „Bildung ist Bürgerrecht“. Beide warnten vor den Folgen mangelnder Bildung für die Demokratie. Beide fanden Gehör. Es wurden, immerhin, Reformen angestoßen und mehr Mittel investiert. Den meisten Beteiligten ist heute klar, welche enormen Investitionen und Reformen gebraucht würden, etwa für kleinere Klassen, persönliche Mentoren für jeden Schüler, mehr Kompetenzen für den Bund. Aber sie fordern all das nicht ein.

Vielleicht hilft der Mut der Italiener deren Kollegen in Deutschland, sich im Wahljahr so laut zu Wort zu melden, dass sie unüberhörbar werden. Ihre Stimme, direkt aus der Praxis, würde zählen. Europas Bildungslandschaft ist angewiesen auf solchen Mut zum Sprechen.

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