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Politik: „Das waren keine Soldaten, das waren Schlächter“

Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe berät über die Schadenersatzforderung griechischer NS-Opfer

Man muss schon gut aufpassen, damit man auf der griechischen Nationalstraße 48, die von der Kreisstadt Livadia in die Berge Böotiens hinaufführt, den Abzweig nach Distomon nicht verpasst. Aber wer will schon nach Distomon? Die Touristen fahren geradeaus ins zwanzig Kilometer entfernte Delphi, um dort die antiken Ruinen zu bewundern. Doch hier spielt ein wichtiges Kapitel der griechischen Geschichte. Distomon ist Schauplatz eines der furchtbarsten Verbrechen, das während des Zweiten Weltkrieges von der deutschen SS begangen wurde. Um Rache zu nehmen für einen Überfall griechischer Partisanen auf einen deutschen Armeekonvoi, stürmten am 10. Juni 1944 Soldaten der 4. SS-Panzergrenadierdivision in den Ort. Sie richteten ein Blutbad an. Zwölf junge Männer, die sie bei der Feldarbeit aufgriffen, exekutierten die Deutschen an der Wand des Schulhauses. Dann kamen die restlichen Dorfbewohner an die Reihe. 218 Menschen starben. Das älteste Opfer war die 85-jährige Artemissia Louka, das jüngste ein zwei Monate altes Baby. „Das waren keine Soldaten das waren sadistische Schlächter", sagt Jannis Basdekis, der bei dem Massaker Schwester und Mutter verlor und selbst nur überlebte, weil er an jenem Morgen im Nachbardorf war.

Doch es traf nicht nur Distomon. Insgesamt wurden in Griechenland 130 000 Zivilisten exekutiert, 70 000 griechische Juden in Vernichtungslager verschleppt. 300 000 Griechen verhungerten oder erfroren im Winter 1942/43, weil die Besatzer Nahrungsmittel und Brennstoffe beschlagnahmten. 1960 zahlte Deutschland 115 Millionen Mark als Entschädigung an Griechenland. Damit seien alle Ansprüche abgegolten, heißt es heute in Berlin. In Distomon jedoch ist von dem Geld nichts angekommen. Der inzwischen in der Schweiz lebende Grieche Argyris Sfoundouris, der als Vierjähriger bei dem Massaker seine Eltern verlor, klagt nun gemeinsam mit seinen drei Schwestern vor dem Bundesgerichtshof auf Entschädigung. Ein griechisches Gericht hatte den Hinterbliebenen bereits 29 Millionen Euro zugesprochen, doch Deutschland weigerte sich, zu zahlen. Die Bundesregierung brachte an Donnerstag in einer Erklärung ihr tiefes Bedauern über die „große Zahl von Schäden an Leben, Gesundheit, Freiheit und Vermögen“ zum Ausdruck.

Die Entscheidung der deutschen Richter, die in etwa zwei Wochen erwartet wird, könnte weit reichende Folgen haben. Rund 60 000 ähnliche Schadenersatzklagen sind derzeit bereits vor griechischen Gerichten anhängig.

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