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Politik: Debatte um "Leitkultur": Rita Süssmuth, über Integration, Tabus und die Öffnung der CDU

Rita Süssmuth (63), CDU, ist Vorsitzende der im Juli berufenen Unabhängigen Kommission zur Zuwanderung. Die Kommission soll Vorschläge zum Ausländerrecht und zu Asylfragen ausarbeiten und im Sommer 2001 präsentieren.

Rita Süssmuth (63), CDU, ist Vorsitzende der im Juli berufenen Unabhängigen Kommission zur Zuwanderung. Die Kommission soll Vorschläge zum Ausländerrecht und zu Asylfragen ausarbeiten und im Sommer 2001 präsentieren. Die ehemalige Bundestagspräsidentin, die aus ihrer Partei wegen der Übernahme dieses Amtes stark kritisiert worden ist, hat an den Beratungen und Beschlüssen der CDU zum Thema Zuwanderung mitgewirkt. Süssmuth war von 1985 bis 1988 Bundesfamilienmisterin.

Frau Süssmuth, wird es in Deutschland einen neuen Einwanderungskonsens geben?

Dieser Konsens bahnt sich an. Es ist schwer, von einem jahrzehntelangen kategorischen Nein zu der Aussage zu kommen: Wir sind ein Einwanderungsland. Um einen Konsens der politischen Parteien zu finden, ist es außerordentlich wichtig, unsere Bevölkerung mitzunehmen. Denn die Bevölkerung ist am stärksten von der Wendung in der Politik überrascht worden, die alten Positionen aufzugeben.

Der Konsens bahnt sich offenbar über einen neuen erbitterten Zuwanderungsstreit an. Das Stichwort lautet: Leitkultur.

Das ist ein Pseudostreit. Er dreht sich nicht mehr um den Tatbestand der Zuwanderung, sondern um die Frage, wie sie erfolgen soll. Was bedeutet Zuwanderung für das eigene Volk? Das ist eine wichtige Frage, die beantwortet werden muss. Der Begriff der Leitkultur will Ängste wegnehmen, Befürchtungen zurückweisen, indem man den Zuwanderern sagt: Ihr habt euch unserer Kultur anzupassen. Für mich steht der Begriff deswegen im Streit, weil er eine einseitige, missverständliche Botschaft an die Bevölkerung ist. Es ist doch selbstverständlich, dass die Zuwanderer sich vertraut machen müssen mit der Sprache, mit den Gepflogenheiten im Land, mit Gesetzen und der Verfassung, dass sie sich orientieren in unserer Kultur. Integration ist aber ein wechselseitiger Prozess. Er hat auch Konsequenzen für die Einheimischen, die dieser Begriff überdeckt und überspielt. Aber ich betone: Die Auseinandersetzung um dieses Reizwort ist nicht mehr der alte Streit um die Einwanderung, er ist bereits ein Streit um das Wie der Integration von Zuwanderern.

Können Sie sich mit dem Diskussionspapier zur Zuwanderung, das Ihre Partei, die CDU jetzt beschlossen hat, identifizieren?

Die CDU hat einen großen Schritt gemacht. Dieses Papier hilft uns, die Diskussion über die anstehenden Fragen zu führen, ohne alles im Vorhinein festzulegen. Ich brauche und gebrauche den Begriff Leitkultur nicht für das, was dort über unsere eigene Identität steht. Aber was inhaltlich darüber gesagt wird, kann ich unterschreiben.

Sie haben den Begriff Leitkultur ...

nie gebraucht.

Aber Sie haben ihn in diesem Papier hingenommen.

Mein Verständnis davon lautet: Was leitet uns in dem, wie wir leben und was wir tun? In diesem Sinne gehe ich damit um. Für mich ist entscheidend, dass sich die CDU mit diesem Papier der Zuwanderung öffnet. Ich habe 1994 ein Interview-Buch veröffentlicht, in dem es hieß: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Die Reaktion in der Union war helle Empörung. Damals wurde erwartet, dass ich darüber nicht weiter rede, denn Deutschland brauche weder aus demographischen noch aus anderen Gründen Zuwanderung. Dieses Papier stellt jetzt fest, dass wir sie brauchen und es fragt danach, wie der Integrationsprozess aussehen kann. Es macht Klärungen und Diskussionen in der Partei möglich. Was mir fehlt, ist die Erweiterung des Begriffs "christlich-europäisches Abendland" um weitere Elemente, zum Beispiel der arabischen Kultur, die - wie in Spanien - auch Europa geprägt haben.

In der Union gibt es auch nach dem Beschluss über dieses Papier eine große Spannung. Der Vorsitzende der CDU-Zuwanderungskommission, Peter Müller, vertritt die Position, dass das Boot nicht voll ist. Andere Spitzenpolitiker der Union vertreten ausdrücklich das Gegenteil.

Sie brauchen nicht lange zu rätseln, dass ich den Positionen von Peter Müller und Wolfgang Bosbach sehr nahe stehe. Müller hat Recht, wenn er sagt: Da ist noch Platz für jene, die uns brauchen und die wir brauchen. Aber eben nicht beliebig. Ich finde es politisch klug, dass er nicht auf seiner ursprünglichen Formulierung bestanden hat. Politiker haben Verantwortung für die Botschaften, die sie ins Land geben. Wenn als Kernbotschaft nur ankommt, dass auf dem Boot noch ganz viel Platz ist, dann macht das vielen Menschen Angst und so einfach ist es nicht, wenn wir an die heutigen Integrationsprobleme denken. Ich habe diese Woche zum Beispiel in Schwedt diskutiert - ein Ort mit 20,5 Prozent registrierten Arbeitslosen. Deren erste Frage ist: Was geschieht eigentlich für uns? Es wäre unverantwortlich, diese Frage unbeantwortet zu lassen. Ich bin voller Hoffnung, dass es der CDU mit der Überwindung der alten Position jetzt gelingt, solchen Ängsten und Fragen mit Argumenten und Maßnahmen zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen zu begegnen. Ich nenne zwei Beispiele. Wir wissen seit mehr als 30 Jahren, dass unsere Geburtenraten stark sinken. Wir wissen, dass unsere Sozialversicherungssysteme ohne Zuwanderung nicht auskommen. Bei unseren Rentenberechnungen kalkulieren wir längst die Zuwanderung ein, die wir offiziell geleugnet haben. Zweitens haben wir lange die Augen vor dem Tatbestand verschlossen, dass wir eine Arbeitslosigkeit mit einem 50-Prozentanteil unqualifizierter Menschen haben und gleichzeitig eine wachsende Zahl von nicht besetzbaren Stellen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir zum Beispiel bei Köchen und bei IT-Experten unseren Bedarf kurzfristig nicht aus dem eigenen Land rekrutieren können. Wir sind nicht die einzigen, die Arbeitskräfte brauchen. England wirbt, Frankreich wirbt, und an erster Stelle werben die USA um diese Fachleute. Unsere Bevölkerung muss wissen und darauf vertrauen können: Die qualifizierten Fachkräfte, die zu uns kommen, schaffen Arbeitsplätze, auch für weniger Qualifizierte. Das hat sich zum Beispiel in den USA in Silicon Valley gezeigt.

Auch die Grünen haben jetzt einen Beitrag zur Diskussion über die Zuwanderung vorgelegt. Ist das ein Beitrag zum künftigen Konsens?

Heute ist auch unter den Grünen unstrittig, dass zur Integration der Spracherwerb gehört. Das ist nicht unwichtig, weil dies im Umfeld der Grünen lange Zeit fast als Zwangsmaßnahme unwürdiger Art angesehen wurde. Ich finde, auch das sind Formen der Annäherung. Auch sie machen die Integration der Zugewanderten zu einem wichtigen Schwerpunkt.

Ihre Kommission will ihre Arbeit vor dem nächsten Sommer beenden und Ergebnisse vorlegen. Heißt das nicht unweigerlich, dass Zuwanderung zum Wahlkampfthema wird?

Dagegen habe ich nichts. Wir stellen in Deutschland gerne Tabu-Schilder auf. Wenn jemand das Thema Volksbefragung aufwirft, dann kommt sofort das Tabu-Schild: Darüber wird jetzt nicht geredet. Wenn jemand fragt, ob wir das Asylrecht nicht ändern müssen, gibt es grundsätzlich zwei schlichte Reaktionen. Die einen sagen: Ja, unbedingt. Und die anderen: Nein, auf gar keinen Fall. Wieder ein Tabu-Schild. So geht es nicht. Wenn ich etwas mit Ja oder Nein beantworte, muß ich argumentieren. Über Zuwanderung kann im Wahlkampf diskutiert werden. Unerlaubt und unverzeihlich wäre eine Auseinandersetzung auf dem Rücken der Ausländer. Die Gefahr der Polarisierung wird geringer, wenn der politische Wille zu einer sachlichen Debatte vorhanden ist. Und wenn die Zuwanderungs-Kommission gut begründete Empfehlungen vorschlägt.

Die Zuwanderungs-Kommission arbeitet jetzt seit zwei Monaten. Wie steht es in Ihren Diskussionen mit Streit, Polemik, Polarisierung?

Unsere Zusammenarbeit ist hoch sachlich, sehr konstruktiv und sie läuft auf Hochtouren. Da wird kein Problem in den Beratungen tabuisiert, es wird alles auf den Tisch gebracht. In dieser Kommission arbeiten Persönlichkeiten mit sehr viel Erfahrung und Kompetenz. Beteiligt sind die Wirtschaft, die Gewerkschaften, Spitzenverbände, der Städtetag, die Gemeinden, Flüchtlingsvertreter, die Kirchen. Wenn die Diskussion in der Öffentlichkeit so sachlich verliefe wie in diesem Gremium, dann brauchen wir vor einem Wahlkampfthema Zuwanderung keine Angst haben. Ein ungeheurer Gewinn ist die Unterstützung durch die Fachleute und Experten, die auf dem Gebiet der Migrations- und Bevölkerungsforschung seit Jahren arbeiten. Ich werbe im Augenblick in diesen Fachkreisen darum, dass sie sich öffentlich artikulieren. Mich ermutigt auch, dass die praktische Integrationsarbeit in unserem Land oft viel besser als ihr Ruf. Das können wir ablesen an den Dokumenten und weitergehenden Integrationsanforderungen, die uns erreichen. Integrationsarbeit wird in Schulen, in Volkshochschulen, in Verbänden und vielen, vielen Bürgerinitiativen geleistet. Auch das wird unser Bericht deutlich machen. Wir stehen nicht am Anfang, sondern wir haben viele gute Erfahrungen des Zusammenlebens gesammelt. Aber wir stehen am Anfang einer neuen Realität. Bisher sagen wir und sagt unsere Rechtsordnung: Wir sind kein Zuwanderungsland. Tatsächlich sind wir es und regeln es in vielen einzelnen Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorgängen. Wenn wir unsere grundsätzliche Auffassung neu beschreiben, wird das weitreichende Konsequenzen für viele der bekannten Bereiche haben.

Noch einmal zurück zu Ihrer Partei und auch zu Ihrer Person. Als Sie zur Vorsitzenden der Kommission berufen wurden, hat die Union Sie mit großer Kälte behandelt. Gibt es da eine Veränderung?

Ja, in der Frage des Zusammenfindens zu praktischer Kooperation. Andererseits: Nein. Denn unverändert lehnt die Mehrheit in meiner Partei, jedenfalls die Mehrheit der hörbaren Stimmen, meine Mitarbeit in der Unabhängigen Kommission der Bundesregierung ab.

Wie bewerten Sie die grosse Demonstration am 9. November in Berlin?

Die eindrucksvolle Demonstration in Berlin - aber nicht nur dort - hat gezeigt, dass sich die Mehrheit unserer Bevölkerung von der Achtung der Menschenwürde der anderen, von der Ablehnung von Gewalt, Rassismus und Antisemitismus, für ein Eintreten in Solidarität mit den Schwachen und Verfolgten leiten lässt. Die Menschen schauen nicht weg, sie schauen hin. Das ist ein wichtiger Teil aktiven Schutzes unserer Verfassungswerte, von denen unsere politischen Maßnahmen gegen Straftäter und für die Vermeidung von Gewalt und Diskriminierung jeder Art geleitet sein müssen.

Frau Süssmuth[wird es in Deutschland einen n]

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