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Politik: Demokratie auf Bulgarisch

Sieger Borissov will neu abstimmen lassen – weil 350 000 gefälschte Wahlzettel gefunden wurden.

Sofia - Vier Tage hatte Ex-Ministerpräsident Boiko Borissov nach der Parlamentswahl geschwiegen, dann schockte er die bulgarische Öffentlichkeit: „Unsere Partei ist wohl die erste in der jüngeren Geschichte Bulgariens, die als Siegerin aus einer Wahl hervorgeht und das Verfassungsgericht um deren Annullierung anruft“, kündigte Borissov am Donnerstag an. Er begründete den ungewöhnlichen Schritt mit dem Bruch des „Schweigegebots“ am Tag vor der Wahl durch die gegnerischen Parteien.

Gemäß bulgarischer Verfassung ist am „Tag des Bedenkens“ jegliche Wahlwerbung verboten. Politiker mehrerer Parteien hatten am vergangenen Samstag jedoch Borissovs Partei „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (Gerb) in Pressekonferenzen vorgeworfen, die Wahlen manipulieren zu wollen. Zuvor waren in einer Druckerei, die einem Gerb-Mitglied gehört, 350 000 Wahlzettel gefunden worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Gerb bestreitet jede Verwicklung in die Stimmzettel-Affäre und wirft der Staatsanwaltschaft vor, sie habe sich „zur fünften politischen Kraft gemacht, deren Stellungnahme uns fünf bis sechs Prozent gekostet hat“.

Nach dem offiziellen Wahlergebnis stehen 97 Gerb-Mandaten 143 Abgeordnetensitze gegenüber, die sich auf drei weitere Parteien verteilen. Doch weder die mit 84 Mandaten zweitplatzierte „Bulgarische Sozialistische Partei“ (BSP) noch die über 36 Sitze verfügende „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS), die die Interessen der türkischen Minderheit in dem Land mit seinen gut sieben Millionen Einwohnern vertritt, wollen mit Gerb koalieren. Auch die nationalistische Ataka (23 Abgeordnete) nicht. Dreieinhalb Jahre konfrontative Regierungstätigkeit haben Borissov in die politische Isolation geführt, die er nun offenbar mit Neuwahlen zu überwinden sucht.

In einem Monat könnte neu gewählt werden, doch da außer Borissov und seiner Partei niemand Neuwahlen will, scheint dieser Zeitplan unrealistisch. Eine mehrheitsfähige Dreierkoalition aus BSP, DPS und Ataka wiederum ist schon aufgrund der politischen Feindschaft zwischen den Vertretern der Türken und den Nationalisten von der Ataka unmöglich. Deshalb strebt Sozialisten-Chef Sergej Stanischev die Bildung einer vom sozialistischen Ex-Finanzminister Plamen Orescharski geführten sogenannten Programm-Regierung an, der auch parteilose Experten angehören sollen. Stanischev hofft auf eine breite Unterstützung aus allen Fraktionen für seine Pläne; ob eine so gebildete Regierung lange überleben würde, ist jedoch zweifelhaft.

Boiko Borissovs engster Vertrauter, Ex-Innenminister Tsvetan Tsvetanov, der von der Staatsanwaltschaft verdächtigt wird, illegale Abhöraufnahmen von politischen Gegnern, aber auch von Leuten aus den eigenen Reihen veranlasst zu haben, hat derweil erklärt, seine Abgeordentenimmunität freiwillig aufzugeben, um seinen „Namen zu säubern“.Frank Stier

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