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Zur Lage der Nation (1): Demokratie in Gefahr

Volksparteien sind aus der Mode gekommen, die Wähler resigniert. Weil die Politik ihre Gestaltungskraft verliert, gerät die Demokratie in Gefahr. Was meinen Sie? Scheitert die Demokratie? Diskutieren Sie mit.

Wer hat eigentlich gewonnen, am Ende des Systemstreits, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht hat? 1989 schien das so eindeutig, dass es glaubhaft klang, das Wort vom Ende der Geschichte. Ja, die Marktwirtschaft hat gesiegt. Aber die Demokratie? Sie hat, wenn wir ehrlich sind, verloren, nicht ihre Strahlkraft, aber viel zu viel vom Glauben an sich selbst. Nicht die Geschichte, nur die Gemütlichkeit der Wohlstandsländer ist an ihr Ende gekommen, seit der Wind der Globalisierung durch ihre Gesellschaften fegt. Freiheitliche Staaten müssen sich nicht mehr gegen Planwirtschaften behaupten, sondern im Wettstreit mit aufsteigenden Marktwirtschaften, die ärmer sind und unfreier als wir. Aber dynamischer, weil sie auf die Rechte Einzelner wenig Rücksicht nehmen, und mehr noch, weil die unerfüllten Hoffnungen von Milliarden junger Menschen sie vorwärts treiben.

Auf diesem Globus sind wir im Wortsinn: Old Europe. Unsere schöne Musterdemokratie, die wir werden mussten, nachdem wir die ganze Welt das Fürchten gelehrt hatten, kann sich sehen lassen. Jedenfalls im Vergleich. Ach, Italien. Ist ein freiheitlicher Rechtsstaat möglich ohne plurale Öffentlichkeit? Großbritannien hat seine Wertschöpfung den Cityboys der Finanzwirtschaft zu Füßen gelegt. Sarkozys Frankreich wird beherrscht von den Eitelkeiten seiner Eliten. Und ganz bitter: Nicht nur die abgehängten, auch die Mittelschichten der demokratischen Führungsmacht fühlen sich, als sei das Ende des amerikanischen Traums gekommen. Dabei hat Obama doch bewiesen, dass der Tellerwäscher alles werden kann.

In Old Europe, in Deutschland, will es scheinen, als wolle er gar nicht mehr Präsident werden. Der seit zwanzig Jahren anhaltende Niedergang der westeuropäischen Sozialisten ist im vergangenen Jahr in Deutschland gekrönt worden. In den 23 Prozent für die SPD stecken zwei Geschichten. Die vom veränderten Parteiengefüge, über die heiß debattiert wird. Und eine heimliche, die vom Ende des Glaubens der „kleinen Leute“ an ihre hart erkämpfte Demokratie, in der sie, repräsentiert durch ihre wandlungsfähigenArbeiterparteien, über die öffentlichen Angelegenheiten mitbestimmen können.

Dieses Band ist zerrissen und kein anderes ist in Sicht. In Deutschland hat sich die Politikverdrossenheit der 90er Jahre zur Kluft zwischen Bevölkerung und Politik ausgewachsen. Als stünde man sich gegenüber wie auf zwei Seiten der Barrikaden. Dabei dürfte „Politik“ in der Demokratie doch nichts anderes sein als die Arena aller Bürger, des Volkes, von dem die Staatsgewalt ausgehen soll.

Volksparteien sind, siehe SPD, aus der Mode gekommen, auch CDU und CSU stecken in Schwierigkeiten. Die Grünen wachsen, zur Volkspartei werden sie nicht, eher eine Massenpartei gutverdienender Mittelschichtler. An der FDP zeigt sich, wie schnell diese Wähler auch zum Abstieg verhelfen können. Die Linke kann aus ihrer frühen Kritik am Finanzkapitalismus keine Funken schlagen. Denn ihre Politik will konservieren, während die meisten Menschen spüren, dass mit Internet, Wissensfortschritt und internationaler Arbeitskonkurrenz mehrere Revolutionen gleichzeitig stattfinden, die keine Grenzen kennen.

Dass Politik in nationalen Grenzen ihre Gestaltungskraft verliert, ist eine unbestreitbare Tatsache und politisches Grundwissen in allen Bevölkerungsschichten. Doch demokratische Staaten haben sich das Primat der Politik auf ihre Fahnen geschrieben. Wer also bestimmt in dieser veränderten Welt? Nicht erst die Finanzkrise hat den Bürgern vor Augen geführt, dass die Gewichte zwischen Politik und Wirtschaftsakteuren sich ganz gewaltig verschoben haben. Die gewählten Politiker waren nicht nur nicht mehr maßgeblich für elementare Bereiche des Lebensalltags. Sie haben gar nicht oder viel zu spät versucht, den neuen Finanzkapitalismus zu zügeln. Das parteiübergreifende Motto der westlichen Welt hieß Deregulierung zugunsten der Wirtschaft, um ihr die Chancen der Globalisierung zu öffnen. Die Bürger, vorrangig die kleinen Leute, erlebten in dieser Zeit allerdings eher deren Risiken und Nachteile.

Ihr Protest ist die resignierte Abwendung. Sie zeigt sich, wenn 30 Prozent der Wahlberechtigten nicht an der Bundestagswahl oder 40 Prozent nicht an der nordrhein-westfälischen Landtagswahl teilnehmen. Und am Mitgliederschwund der Volksparteien. Die wichtigste Ursache für das schwindende Vertrauen der Bürger ist sehr schlicht. Die Politik macht keine Politik. Sie versucht zu wenig, wo es, siehe Finanzmärkte, am wichtigsten wäre und gigantisch schwer ist. Aber auch die Bildungsrepublik Deutschland, und da taugt die Globalisierung als Ausrede nicht, existiert nicht. Wohl aber das unsinnige Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern, das mittlerweile Politiker aller Parteien für falsch erklärt haben, die es 2005 beschlossen haben.

Im öffentlichen Umgang mit Bildung, Kindern und Jugend zeigt sich ein verhängnisvoller Zusammenhang zwischen der politischen Apathie von Bevölkerungsgruppen, die keine starke öffentliche Stimme haben, und der Zukunftsfähigkeit der demokratischen Gesellschaften. Wer nicht wählen geht, wird von der Politik nicht beachtet. Hartz IV ist, machttaktisch gesehen, kein Gewinnerthema. Doch auf das Potenzial dieser Menschen, zumal das der Kinder, ist unser Land auf Gedeih und Verderb angewiesen. Deutschland leistet sich bei den unter 25-Jährigen eine Arbeitslosenqote deutlich über der durchschnittlichen. Auf zehn Prozent wollte die EU die Jugendarbeitslosigkeit bis 2010 senken. Doch im Gefolge der Finanzkrise liegt die Jugendarbeitslosigkeit überall doppelt so hoch wie im Durchschnitt, in Spanien bei erschreckenden 41 Prozent. Darüber spricht auch die professionelle Medienöffentlichkeit selten oder nur, wenn es sich in ihre Aufmerksamkeitsregeln fügt.

Die vervielfältigen derzeit die Wirkung der Bürger, die ihre Enttäuschungen in lautem Protest ausdrücken. Zeigt sich in Stuttgart nicht, dass sie doch lebt, die Demokratie? Ganz sicher. Aber es wäre sehr genügsam, damit zufrieden zu sein. Denn hundert Bahnhofskämpfe können nicht kompensieren, dass die Partizipation an der repräsentativen und der außerparlamentarischen Demokratie gelitten hat. Was artikulationsfähige Bürger für ihre unmittelbaren Interessen verfechten, kann Lösungen im Interesse des Gemeinwohls sogar schwerer machen.

Individualisierung ist das Merkmal unserer Gesellschaft. Doch zugleich ist sie sehr undurchlässig geworden. Kann es sein, dass wir die wachsende Ungleichheit begrenzen müssen, wenn die Demokratie vital bleiben soll?

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