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Schon in den vergangenen Tagen wuchs der Unmut über die Herrschaft von Präsident Mursi.

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Update

Demonstrationen in Ägypten: Anlauf für eine zweite Revolution

Die Bürger Ägyptens wollen Präsident Mursi am Sonntag mit einer Millionendemonstration zum Rücktritt zwingen. Früher als erwartet, sind bereits am Freitag tausende Menschen auf die Straße gegangen. Die Proteste zogen sich bis in die Nacht. Drei Menschen kamen ums Leben.

In Ägyptens Kasernen herrscht hektisches Treiben. Demonstrativ wurden in den vergangen Tagen Truppen in die Hauptstadt Kairo verlegt. Gepanzerte Fahrzeuge sind in den Straßen aufgefahren, Soldaten vor Banken und Ministerien postiert. Und ihr Oberbefehlshaber sparte nicht mit klaren Worten. Die Armee werde eingreifen, um die Nation vor „dem dunklen Tunnel innerer Kämpfe“ zu bewahren, sollten die für Sonntag geplanten Millionenmärsche gegen Präsident Mohammed Mursi in Gewalt umschlagen, erklärte General Abdel-Fattah el-Sissi in einer Rede vor hohen Mitoffizieren. Die Zerstrittenheit des Landes habe ein Ausmaß erreicht, das die Grundlagen des gesamten Staates gefährde. „Wir werden nicht schweigend zusehen, wie unser Vaterland in einem Konflikt hereinrutscht, der praktisch nicht mehr beherrschbar ist“, sagte er und forderte beide Seiten auf, sich noch vor dem 30. Juni um eine „echte Versöhnung“ zu bemühen.

Doch danach sieht es nicht aus. Die jungen Aktivisten, die vor zwei Monaten mit ihrer Kampagne „Tamarod“ begannen, haben eine Lawine der Unzufriedenheit losgetreten. Millionen Ägypter wollen am Sonntag so lange demonstrieren, bis Präsident Mursi das Handtuch wirft. 15 Millionen Unterschriften haben die Rebellen nach eigenen Angaben für ihre „zweite Revolution“ gesammelt, zwei Millionen mehr, als Mursis Stimmenzahl bei seiner Wahl vor einem Jahr. Selbst die ägyptische Ikone des Arabischen Frühling, der Blogger Wael Ghonim, der mit seiner Facebook-Seite den Startschuss für die erste Revolution gegen Hosni Mubarak gab, forderte Nachfolger Mursi „im Namen Gottes und der Nation“ zum Rücktritt auf, „um das heraufziehende Blutvergießen zu vermeiden“. Geht es nach den Aktivisten von „Tamarod“, soll zunächst ein Interimkabinett aus Technokraten die Geschicke des Landes übernehmen. Die von den Islamisten im Handstreich durchgesetzte Verfassung soll annulliert und durch eine von Rechtsexperten überarbeitete neue Charta ersetzt werden. Innerhalb von sechs Monaten könnte das Volk dann ein neues Staatsoberhaupt wählen.

Bereits am Freitag, früher als erwartet, gingen Tausende von Ägyptern auf die Straße, um den Rücktritt des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi zu fordern. In der Hafenstadt Alexandria gab es gewaltsame Zusammenstöße zwischen Anhängern und Gegnern der regierenden Islamisten. Dabei sind mindestens drei Menschen getötet und 130 weitere verletzt worden. In Alexandria ist dem Staatsfernsehen zufolge ein US-Bürger ums Leben gekommen. Bei dem Mann handle es sich um einen 21-jährigen Fotoreporter, hieß es. Nach Angaben von Ärzten wurde der Mann mit Schusswunden ins Krankenhaus eingeliefert, wo er später starb. Der Sicherheitschef von Alexandria, Amin Essedin, sagte, der Mann habe für das US-Kulturzentrum in der nördlichen Stadt gearbeitet. Ein Vertreter der US-Botschaft in der ägyptischen Hauptstadt Kairo sagte AFP, die Vertretung habe von den Berichten gehört und bemühe sich um eine Bestätigung des Vorfalls. In der Hafenstadt Port Said am Suez-Kanal wurde zudem ein ägyptischer Journalist getötet, als Unbekannte einen Sprengsatz warfen, wie ein Vertreter der Sicherheitskräfte und mehrere Augenzeugen berichteten. Bei den Auseinandersetzungen der vergangenen Tage waren bereits vier Menschen getötet worden.

Angesichts der Unruhen erlaubten die USA einem Teil ihres Botschaftspersonals die Ausreise. Zudem empfahl das Außenministerium, nach Möglichkeit von Reisen in das nordafrikanische Land abzusehen.

Mursi, der 2012 bei der ersten freien Präsidentschaftswahl mit knapper Mehrheit gewählt worden war, ist seit einem Jahr im Amt. Eine Protestbewegung will am Sonntag, dem Jahrestag seiner Vereidigung, mehr als 20 Millionen Unterschriften von Bürgern übergeben, die seine Absetzung und Neuwahlen fordern.

Die Demonstranten, die in Kairo, Al-Mahalla und Alexandria durch die Straßen marschierten, waren jedoch nicht die einzigen, die trotz des heißen Wetters mit Plakaten um die Unterstützung der Bürger warben. Tausende von Anhängern der islamistischen Parteien hielten im Kairoer Vorort Nasr-City eine Kundgebung unter dem Motto „Die Legitimität ist die rote Linie“ ab.

Vor der Rabea al-Adawija Moschee in Kairo sammelten sich am Abend etwa 20 000 Menschen. Mehrere Redner warfen der Protestbewegung vor, sie werde „aus dem Ausland unterstützt, von Staaten, die nichts Gutes für Ägypten wollen“. Sie betonten, Mursi werde nicht vor Ende seiner vierjährigen Amtszeit zurücktreten. Auch auf dem Tahrir-Platz, wo sich die Gegner der Islamisten sammelte, wurde es am Abend voll.

Mursi will im Amt bleiben

Doch Mohammed Mursi denkt gar nicht daran, auf Druck der Straße den Weg für Neuwahlen freizumachen. Auch am Freitag demonstrierten in Kairo, Alexandria und zahlreiche Provinzen wieder Zehntausende von Islamisten für ihren politischen Vormann. Er habe Fehler gemacht, räumte der Präsident in seiner fast dreistündigen Einjahresbilanz vor dem gesamten Kabinett und handverlesenem Publikum ein und entschuldigte sich „bei allen für das, was auf den Straßen los ist“. Gleichzeitig warf er seinen Kritikern vor, sie seien von korrupten Ex-Funktionären des 2011 gestürzten Mubarak-Regimes gesteuert. „Jede Revolution hat Feinde“, gab sich der erste Islamist an der Spitze des ägyptischen Staates kämpferisch.

Im breiten Volk dagegen hat sich so viel Verbitterung, Hass und Frustration angestaut, dass sich das Gemisch am Sonntag in einem blutigen Aufruhr entladen und Ägypten endgültig unregierbar machen könnte. Bereits in den letzten Tagen starben bei Krawallen mindestens drei Menschen und wurden über 300 verletzt. In vielen Teilen Kairos liegt der Verkehr  lahm, weil sich die Autos kilometerlang vor den Tankstellen stauen und die Straßen blockieren. Menschen plündern ihre Bankkonten und horten Lebensmittel. Im gesamten Oberägypten existiert es nur noch eine Notversorgung mit Sprit. Selbst der Schwarzmarkt ist leergefegt, entnervte Autofahrer prügeln sich an den Tanksäulen. Auch sonst steigen Verbrechen, Gesetzlosigkeit und Selbstjustiz, die Polizei schaut meistens weg. Stromausfälle plagen Unternehmen und Bevölkerung. Und immer mehr Familien haben nicht mehr genug zu essen und trauen sich abends nicht mehr auf die Straße.

Die Opposition bietet kein gutes Bild

Das Bündnis der „Tamarod“-Aktivisten wirft Muslimbrüdern und Salafisten vor, die Macht zu monopolisieren, der Gesellschaft einen islamistischen Stempel aufdrücken zu wollen und das Land durch ihre inkompetente Politik in eine heillose Misere geführt zu haben. Doch überzeugende personelle und politische Alternativen hat auch die Opposition nicht zu bieten. Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei erklärte bereits, er stehe bei einer möglichen Neuwahl des Präsidenten nicht als Kandidat zur Verfügung. Ex-Außerminister Amr Moussa ist völlig abgetaucht. Andere ägyptische Oppositionspolitiker blamierten sich kürzlich bis auf die Knochen, als sie während einer ohne ihr Wissen live übertragenen Debatte zum Nilwasserstreit zwischen Kairo und Addis Abeba ungeniert Kriegsdrohungen gegenüber Äthiopien ausstießen. „Ich bin enttäuscht über Mursi und bin enttäuscht über die Opposition. Ich hoffe, dass die Armee jetzt ein komplettes Chaos verhindern kann“, zitierte eine lokale Zeitung dieser Tage einen Passanten in Kairo. Ein anderer widersprach. „Wir haben die Revolution nicht gemacht, um am Ende eine Militärdiktatur zu bekommen.“ (mit dpa/AFP)

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