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Grenzfall. Israelische Polizisten nahmen am Sonntag einen palästinensischen Demonstranten in der Westbank nahe Jerusalem fest. Foto: Ammar Awad/rtr

© REUTERS

Politik: Der Arabische Frühling erreicht Israel

Der Grenzdurchbruch von Palästinensern am Sonntag schwächt die Position Netanjahus massiv

„Nicht gut“ findet der neue israelische Generalstabschef Generalmajor Beni Ganz, was am Sonntag an der Grenzlinie Israels mit Syrien geschah. Das muss, militärisch wie politisch, als maßlose Untertreibung gelten. Der Vergleich mit einem Erdbeben wäre angemessener. Oder auch: Der Arabische Frühling hat Israel erreicht. Die Palästinenser haben angefangen, wie zuvor Tunesier und Ägypter, mit zivilen Mitteln ihre Herrscher, in ihrem Fall die israelischen Besatzer, aus ihren Machtpositionen zu hebeln. Der Marsch unbewaffneter palästinensischer Flüchtlinge an die israelischen Grenzen und über sie hinweg auf israelisches Staats- und Herrschaftsgebiet hat am Sonntag die israelische Selbstsicherheit als realitätsblinde Arroganz enthüllt.

Der Grenzmarsch dürfte nur der Anfang gewesen sein, die aus palästinensischer Sicht geglückte Hauptprobe für den September. Die Chancen der Palästinenser auf Anerkennung durch die UN sind durch die Ereignisse am „Naqba“-Tag, dem Gedenktag der Vertreibung, sprunghaft gestiegen: Sie könnten die von von ihnen angestrebte UN-Abstimmung über einen unabhängigen Staat Palästina „in den Grenzen von 1967“ geradezu triumphal gewinnen, ja möglicherweise gar ein amerikanisches Veto im Sicherheitsrat verhindern. Israels frühere UN-Botschafterin Gabriela Shalev sprach am Montag von „einem neuen Tiefpunkt“ der israelischen Position.

Sollten nach einer UN-Abstimmung Hunderttausende vor den 140 Siedlungen im Westjordanland aufmarschieren, wäre die militärisch stärkste Armee des Nahen Ostens total überfordert, würde kapitulieren müssen oder aber ein Blutbad anrichten, das Israel zum ultimativen Paria unter den Staaten werden ließe. Schon jetzt kann Israels Milizarmee mangels Masse die langen Grenzen des schmalen Landesnorden nicht hinreichend schützen. Die Grenzlinie bei Madschd-el-Schams am nördlichen Golan war keineswegs – wie Nachrichtenagenturen fälschlich meldeten – „streng bewacht“, sondern praktisch ungeschützt.

Noch am Sonntagmorgen blickte Israels Premier Benjamin Netanjahu munter in die nahe Zukunft. Beim USA-Besuch in dieser Woche wollte er über Israels Sicherheitsprobleme, die iranische Bedrohung, sprechen. Und die USA bitten, den „politischen Tsunami“ vor den UN im September zu verhindern. Nachdem sich die Palästinenser letzte Woche auf eine erneute Machtbeteiligung der radikalislamischen Hamas geeinigt hätten, seien sie endgültig als Verhandlungspartner disqualifiziert.

Doch nach diesem Sonntag muss angezweifelt werden, ob diese Taktik in den USA noch verfängt. Die Palästinenser können wieder einmal, wie schon anlässlich der ersten und damals praktisch gewaltlosen Intifada, einen grandiosen politischen Sieg einheimsen und haben erheblich an internationalem Ansehen gewonnen – ohne ihre von den Ereignissen überrumpelte politische Führung.

Doch ein großes Problem bleibt: Die palästinensisch-libanesischen Grenzzaunstürmer forderten genauso kompromisslos wie die an der syrischen Grenze ihr „Rückkehrrecht“. Anders als die politische Führung, Abbas’ Fatah wie die Hamas, lehnen sie die Zwei-Staaten-Lösung, einen palästinensischen Staat „in den Grenzen von 1967“, entschieden ab. Sie verlangen ausdrücklich, in dritter Flüchtlingsgeneration in die Städte und Dörfer ihrer Eltern und Großeltern von 1948 zurückzukehren. Das aber würde eindeutig die Zerstörung Israels als jüdischen Staat bedeuten. Am „Rückkehrrecht“, und nur an diesem sind schon die Friedensverhandlungen von Camp David zwischen Jassir Arafat und dem damaligen israelischen Regierungschef Ehud Barak gescheitert.

In den palästinensischen Flüchtlingslagern, namentlich in Libanon und Syrien, tickt demnach eine in den letzten Jahrzehnten ignorierte Zeitbombe. Denn wenn Israel einwilligte, eine Rückkehr von Flüchtlingen auf sein Staatsgebiet zu erlauben, jedenfalls über eine symbolische Anzahl von Menschen hinaus, wäre dies „nationaler Selbstmord“, „Harakiri“, also unakzeptierbar. In diesem Punkt stimmen selbst linke Politiker mit der Regierung überein.

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