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2011

© picture-alliance / Sueddeutsche

Politik: Der Chorgeist

Vor 220 Jahren gründete Carl Friedrich Fasch die Sing-Akademie. Und erfand nebenbei den gemischten Gesangsverein

Die „Sing-Akademie zu Berlin“, so war jüngst in den Feuilletons zu lesen, soll nun ihr 1827 aus Vereinsmitteln erbautes Konzerthaus unter den Linden (heute: Maxim-Gorki-Theater) doch nicht zurückbekommen. Das einschlägige Urteil des Berliner Kammergerichts vom 7. Juli 2011 bildet den vorläufigen Abschluss eines 20-jährigen Rechtsstreits, in dem zuletzt offensichtlich das genaue Gegenteil galt. Erneuter Einspruch ist also zu erwarten. Einige Wochen vorher, am 24. Mai, konnte die „Sing-Akademie“ den 220. Jahrestag ihrer Gründung am wiederaufgestellten Denkmal ihres Stifters Carl Friedrich Fasch vor dem Gorki-Theater feiern. Bei hoffnungsfrohem Berliner Sommerwetter, das dann allerdings nicht hielt, was es versprach.

Aber auch hier liegen die Dinge einigermaßen vertrackt. Dürften doch die wenigsten der Passanten wissen, wie unter der russischen Besatzung dereinst aus dem Konzertbau ein Theater wurde und warum nunmehr anstatt Gorki der noch unbekanntere Fasch davorsteht, wo doch, wenn schon, am ehesten Carl Friedrich Zelter hingehört hätte, der das Haus erbaut und die Singakademie berühmt gemacht hat.

Undurchsichtigkeiten dieser Art sind freilich ein Berliner Spezifikum. Sie entspringen der janusköpfigen Geschichte der Stadt, die um 1700 noch eine ambitionierte Provinzresidenz war, um 1750 ein verwegenes Amalgam aus Kasernenhof und französischer Aufklärungskultur, um 1800 ein geistiges Zentrum Europas, das in die Hand der Restauration fiel, um 1930 die drittgrößte und kulturell ehrgeizigste Stadt der Welt, die sich gleichwohl dem Faschismus ergab, die dann babylonisch in den Abgrund fuhr und sich danach jahrzehntelang mit Stalinalleen und Hansavierteln zu vergessen suchte. Eine neue, von der hauptstädtisch-politischen unabhängige urbane Identität ist daraus seit dem Mauerfall nicht entstanden, und die Prüfung dessen, was die Historie dafür hergäbe, kaum in Gang gekommen. Natürlich gehörte Faschs Sing-Akademie dazu.

Wer also war Carl Friedrich Christian Fasch, wie kam er dazu, die Singakademie zu gründen, und was bedeuteten die Ideen, mit denen er in der Welt der Musik Epoche machte? Aus heutiger Sicht war er fraglos ein medialer Revolutionär: der Mann, der die Knaben-, Kastraten- und Falsettstimmen ersetzbar machte, indem er den gemischten Chor erfand, der Mann, der die erste freie Gesangsvereinigung gründete, in der Frauen und Männer zu gleichen Teilen präsidierten, der Mann schließlich, der die alten und neuen Werke der geistlichen Musik außerhalb der Kirche und von einem die Standesgrenzen ignorierenden Ensemble singen ließ. Nach Auskunft der Forschung gab es nichts davon vor ihm und seinem Versuch von 1791.

Dabei wiesen seine Anfänge in eine ganz andere Richtung. Als Sohn eines Hofkapellmeisters aus der Bachschule erhielt er eine glänzende Instrumentalausbildung und wurde 1756, gerade 20 Jahre alt, als zweiter Kammercembalist nach Potsdam berufen. Dort hatte er im Wechsel mit dem ersten das Flötenspiel und Konzertieren des Königs zu begleiten, wobei der erste kein Geringerer als Carl Philipp Emanuel Bach war, der berühmteste deutsche Musiker dieser Jahre. Das war ein steiler Berufseinstieg, der viel erwarten ließ, zumal Fasch durch seine Kunst des einfühlsamen Begleitens schnell die Gunst des Königs gewann. Doch bei der Erwartung blieb es dann, weil Friedrich II. noch im selben Jahr 1756 in einen lang währenden Krieg eintrat, der zwar seine Macht und seinen Beinamen begründete, aber seinen musikalischen Ehrgeiz mehr oder minder brach, so dass Fasch immer weniger und am Ende gar nichts mehr zu tun hatte. Was sich in dieser Zeit in seinem Kopf abspielte, ist für uns weitgehend eine Blackbox, an deren Ausgang allerdings etwas völlig Unerwartetes zutage trat, nämlich das oben angedeutete Konzept einer Chormusik, die weder der Divertissement-Funktion der Hofmusik noch der gottesdienstlichen Funktion der Kirchenmusik folgte, sondern allein der ästhetischen Selbstbewährung und Selbsterbauung unabhängiger stadtbürgerlicher Laiensänger.

Der musikwissenschaftliche Tunnelblick hat diese Neuerung gern dem Zufall zugeschrieben. Fasch habe damals an einer 16-stimmigen Messe nach italienischem Vorbild gearbeitet, für die sich aber in Berlin und Potsdam kein taugliches Aufführungsmedium fand, so dass er sich mithilfe seiner Berliner Privatschüler und seiner Fantasie selbst eines konstruieren musste. Dabei sei er auf die Vorteile und Reize des gemischten Chorgesangs gestoßen. An diese Version kann man glauben, doch aufschlussreicher ist sicher der Versuch, Faschs Ideen von 1790 ins Kräfteparallelogramm der damaligen Kulturbewegung zu stellen, also in den Kontext des an seine Grenzen gelangten Absolutismus, der kulturellen Emanzipation der Stadt vom Hof und des Übergangs der ständisch-geschlossenen in eine individualistisch-offene Gesellschaft. Freiheit hieß in diesem Zusammenhang allerdings – anders als im gleichzeitigen Paris – nicht politischer Umsturz, sondern das Recht des Einzelnen, seine individuelle Begabung und intellektuelle Reichweite zu erkunden und einen eigenen Ton und Lebensplan dafür zu finden. Genau das war in Berlin nach 1786, dem Todesjahr Friedrichs des Großen, die Parole und genau das muss der von seinem Dienstherrn stillgestellte, aber festgehaltene Fasch seit ca. 1780 in seinem Kopf bewegt haben: die innerliche Absage an den dekretierenden Staat und die dekretierte Kunst, wie sie durch den Autokraten Friedrich nun einmal praktiziert wurde.

Fasch trat damit in eine Reihe jüngerer Berliner Genies, die damals alle dasselbe „Wagnis der Autonomie“ (C. Berghahn) eingingen und mit einem höchst eigenen Ton an die Öffentlichkeit traten. Gemeint ist damit etwa Karl Philipp Moritz, der in einer fulminanten Autobiografie die erste Selbstanalyse einer religiös traumatisierten Jugend lieferte, gemeint ist Rahel Levin-Varnhagen, die ohne alle soziale Lizenz einen Salon eröffnete, in dem sie den Intellektuellen der Stadt zeigte, was es heißt, als Jüdin öffentlich das Wort zu ergreifen, gemeint ist das Freundespaar Tieck und Wackenroder, welches (mithilfe Faschs) das Konzept der romantischen „Kunstreligion“ fand, gemeint ist der geniale Bildhauer Schadow, der ohne Rücksicht auf seine Karriere seinen meist hohen Auftraggebern die Attribute des Standes, des Amtes und des Ruhms verweigerte und sie in ihrer rein menschlichen Besonderheit darzustellen versuchte (darunter auch Fasch), und gemeint ist schließlich der für ein hohes Staatsamt erzogene Wilhelm von Humboldt, der sich dann aber nur dafür interessierte, wie man seine Individualität gegen den dirigistischen Staat behaupten und optimal verwirklichen konnte.

Wie nahe Fasch den Genannten auch persönlich stand, ist schwer zu sagen. Außer Wackenroder, der bei ihm Musikunterricht nahm, und Schadow, der mit seinem Schüler Zelter befreundet war, dürfte er mit keinem näher verkehrt haben, was angesichts der Tatsache, dass er eine Generation älter als sie und damals schon ein schwerkranker Mann war, nicht viel bedeutet. Umso erstaunlicher, wie viele Ideen er mit ihnen teilte. Hätte er Wilhelm von Humboldt getroffen, er hätte sich leicht mit ihm über die Notwendigkeit bürgerlicher Selbstorganisation austauschen können, und wäre Rahel Levin hinzugetreten, sie hätten zu dritt Humboldts Thesen zu Geschlecht und Kultur spielend ein Stück vorangebracht. Anderes, wie etwa die riskante Lebensplanung der Jüngeren, war ihm wohl fremd. Sein Beitrag zur kulturellen Emanzipation lief über das Relais des Kollektiven, weshalb er sich am ehesten wohl mit seinem Altersgenossen Carl Gotthard Langhans vergleichen lässt. Langhans schenkte den Berlinern 1792 als Alterswerk ein Stadttor, das ihnen athenischen Bürgergeist vor Augen führte; Fasch schenkte ihnen, etwa gleichzeitig und ebenfalls als Alterswerk, das identitätsstiftende Projekt eines „Kunstkorps für die heilige Musik, wo sich jeder ernsthafte Freund dieser Kunst anschließen und durch eigene Mitwirkung so viel Genugtuung verschaffen konnte, als möglich war“ (Zelter).

So gesehen war Fasch ein Überläufer. Denn obwohl er seinen Hofdienst lebenslang loyal abdiente, verwirklichte er seine musikalische Vision auf der Gegenseite, nämlich im offenen und bildungsbewussten Milieu der Bürgergesellschaft. Wer will, kann diesen Seitenwechsel noch heute im Straßenbild des einstigen Forum Fridericianum nachvollziehen. Auf der einen Seite der Linden, weit nach vorne gerückt, die königliche Oper, die schon zwei Jahre nach der Thronbesteigung Friedrichs II. fertig war und den Monopolanspruch des Hofes auf die weltliche Musikkultur geltend machte; auf der anderen Seite, ein gehöriges Stück hinter die Neue Wache des Königs gerückt, die 85 Jahre später von Zelter errichtete Singakademie, die als Prototyp der städtischen Konzerthallen des 19. Jahrhunderts die bürgerliche Emanzipation von eben diesem Machtanspruch verkörpert. Ob es irgendwo in Europa ein vergleichbares Ensemble gibt, sei dahingestellt. In Berlin jedenfalls bilden die beiden heterogenen Kunsttempel bis heute eine Sichtlinie, die es in sich hat.

Das eigene Haus und der organisatorische Apparat, durch die die Singakademie ihre feste Form und Qualitätsgarantie gewann, stammten freilich nicht von Fasch, sondern von seinem Schüler Zelter. Erst dessen autodidaktischer Ehrgeiz schuf die Voraussetzung für den Siegeszug, den das Berliner Chor-Konzept alsbald antrat. Und zwar nachhaltig. Der gemischte Chor gilt heute in weiten Teilen der Welt als die Normalform des Chorsingens und macht in Deutschland, wo es etwa 3 Millionen organisierte Laiensänger in etwa 60000 Chören gibt, rund 50 Prozent im Typenspektrum aus, – gefolgt nicht etwa vom gern belächelten Männerchor (16 Prozent), sondern vom Kinder und Jugendchor (31 Prozent). In anderen Ländern dürfte es sich ähnlich verhalten.

Zu den Erstaunlichkeiten dieser ständig sich modernisierenden und trivialisierenden Massenbewegung gehört, dass sich ihr historischer Kern, der große urbane Oratorienchor, unversehrt erhalten hat, obwohl seine emanzipations- und frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzung längst nicht mehr gegeben ist. Große, meist außerkirchliche Laienchöre, die sich vor der Matthäus-Passion nicht fürchten müssen, gibt es heute in jeder Mittelstadt, – nicht selten mehrfach. In Berlin sind es gegenwärtig zwischen 10 und 15, darunter die alte „Sing-Akademie zu Berlin“ und die 1963 in Ostberlin neugegründete „Berliner Singakademie“, an deren öffentlich ausgetragenem Streit in der Nachwendezeit im Übrigen deutlich geworden ist, wie wenig das hochambitionierte Genre sich sonst um öffentliche Aufmerksamkeit zu bemühen pflegt.

Dabei ist das Genre als geheimer Kopf der „zweiten Musikkultur“ fraglos der genuine Gegenspieler jener „ersten Musikkultur“, die die öffentliche Aufmerksamkeit heute fast ganz usurpiert. Denn im Gegensatz zur lückenlos vermarkteten Virtuosenwelt sowohl der klassischen Opernhäuser und Philharmonien wie der Arenen und Tempel der Popmusik verschmäht der selbstbestimmte Ehrgeiz der oratorischen Laienchöre die Marktgesetze so gut wie ganz. Und während in der professionellen Kultszene die Kluft zwischen Künstler und Publikum riesig ist, scheint sie in der mitunter nur geringfügig schlechteren Laienchor-Welt gar nicht vorhanden. Anstatt des Sensations- und Überwältigungsbedürfnisses dort, herrscht hier ein kollektives Bewusstsein der Teilhabe, dem Busonis harsches Wort vom „wohlwollenden Missverständnis“, wonach sich in der Konzertpraxis der Interpret fast immer zu weit vor das Werk schiebt, nicht viel bedeutet.

Dieser Kontrast ist umso interessanter, als beide Spielarten der Musikrezeption ja in der Regel in Personalunion auftreten und im Idealfall als Komplementärverhältnis betrachtet werden können. Das besagt einiges über die Psychologie der Fan-Kultur, mehr aber über den historischen Mehrwert der Berliner Ideen von 1800, die, wie einst die Emanzipation von Staat und Ständegesellschaft, heute die Emanzipation vom Markt suggerieren. Damit sind wir wieder bei der vorläufig vom Staat enteigneten „Sing-Akademie zu Berlin“, die in ihrer offensichtlich nicht ungeliebten Wahlheimat an der Invalidenstraße, dem stimmungsvollen einstigen Gemeindesaal von St. Elisabeth, seit einigen Jahren ein historisches Rekonstruktions- und Transformationsprojekt betreibt, das genau auf diesen Mehrwert ausgerichtet ist.

Kai-Uwe Jirka, Chor-Professor an der Universität der Künste, und der Lyriker und Dramaturg Christian Filips haben sich dort zusammengetan, um Faschs Ideen und Zelters kommunitarisches Genie so genau wie möglich auf ihre Aktualisierbarkeit hin zu prüfen. Nicht dass sich ihr Programm nicht in vielem mit dem der anderen Oratorienchöre deckte, doch geht es zugleich beträchtlich darüber hinaus.

Wichtigster Impetus scheint der ursprüngliche Wille zur Unabhängigkeit, der sich einerseits im Verzicht auf staatliche Zuschüsse zeigt, andererseits in einer riskanten Repertoiregestaltung, in der die berühmten saisonalen Titel weitgehend fehlen. Die Singakademie, sagt Professor Jirka in einem Interview, sei in ihrer Anfangszeit im Grunde ein reiner Uraufführungs- und Versuchschor gewesen. Daran wolle er anschließen, und dazu dient offensichtlich sein Löcken wider den Kanon, sein Experimentieren mit allen verfügbaren Chorgrößen und Chortypen, der ständige Einbezug der Hörerschaft und die systematische Kooperation mit dem Chorleiternachwuchs.

Das federleichte Gegenstück zu dieser Politik ist die Neubegründung der berühmten „Liedertafel“ von 1808, die bei Zelter als eine Art Schlupfloch für den Zeitgeist fungierte und jetzt zu einem Labor der avanciertesten Begegnung zwischen Musik und Literatur geworden ist. Nach den meist exzentrischen Etüden wird tatsächlich die Liedertafel hereingeschoben, und man kann mit anderen Gästen mitsingen, mittafeln, mitdebattieren oder, nach Sättigung durch Gesang und Gemüt, vorzeitig gehen. Man muss nur eben wirklich kommen.

Conrad Wiedemann

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