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Politik: "Der Letzte": Nackte im Landtag

Der Ministerpräsident kämpft, aber auf verlorenem Posten. So oder so - er muss verlieren.

Der Ministerpräsident kämpft, aber auf verlorenem Posten. So oder so - er muss verlieren. Erst blinzelt er sehr heftig, dann reißt er die Augen weit auf und schließt sie einen Moment, als denke er scharf nach. Reißt sie noch einmal auf ... blinzelt ...

Der Dunst feuchter Haut mischt sich mit Duftwässerchen und Pfefferminzpastillen. Hinter dem Rednerpult müht sich ein Geschäftsführer, so laut zu sprechen, dass man ihn versteht; aber auch wieder nicht so laut, dass er, versehentlich, in die erste Reihe spuckt. Er könnte ja den Ministerpräsidenten treffen! Doch der blinzelt nur, und dann sackt sein Kinn nach unten. Die Wortfetzen, die er noch hört - es geht um Solardünnschichttechnik -, schweben davon: Investitionen . Millionen . . Subventionen ... Produktionen - und weg ist er, heimlich abgereist ins Land der Träume.

Acht Monate musste Landolf Scherzer darauf warten, Bernhard Vogel begleiten zu dürfen. Anfang 1999 hatte er sich im Landtag von Thüringen als Journalist akkreditieren lassen. In der Pressestelle sagte man ihm, so kurz vor der Wahl sei er wohl der Letzte - und so heißt auch sein Bericht.

Mit zwei Büchern war Scherzer richtig bekannt geworden. Der Erste, erschienen vor der Wende, beschreibt vier Wochen im Leben des ersten Sekretärs der SED des Kreises Bad Salzungen. Der Zweite, erschienen nach der Wende, beschreibt drei Wochen im Leben des - zeitlich betrachtet - zweiten Landrats von Bad Salzungen, einem CDU-Politiker aus dem Westerwald. Der Tagesspiegel entdeckte den Unterschied zwischen beiden Werken mit der Nase: Das erste rieche nach DDR, was wohl eine Mischung aus Opportunismus, Subversion und Sättigungsbeilage bedeuten sollte. Das zweite dagegen müffelte nur ostalgisch. Und das dritte?

Scherzer betritt die kleine Welt der Thüringer Politik durch die Landtagskantine, der besten Nachrichtenbörse, wie man ihm sagte. Mit einer Bockwurst für 2,10 Mark auf dem Teller setzt er sich zu den Kollegen, aber mit jeder Minute kommt ihm diese Welt seltsamer vor. Hier und dort trifft der Schriftsteller alte Bekannte, die - wie sich zeigt - zu Unbekannten wurden. Die Höflichkeitsfrage nach dem Wohlbefinden verkneift sich Scherzer bald, weil die Antworten stets wie Parlamentsreden klingen. Hin und wieder flüchtet er noch aus dem klassizistischen Landtagsbau, dessen Innenleben ihm fremd ist, zum Beispiel in die Gaststätte "Zum Schnitzelheinz", zu den normalen Menschen. Doch Scherzer kehrt immer wieder zurück, um zu sehen, was die Politik aus normalen Menschen gemacht hat.

Es gibt zwischen Journalisten und Politikern Vereinbarungen darüber, was alles nicht geschrieben wird. Nur so sei in Hintergrundgesprächen etwas zu erfahren, was nicht zur Veröffentlichung bestimmt, aber zur Einschätzung der Lage nützlich ist, heißt es. Diese Übereinkunft nutzt meistens den Politikern mehr als den Journalisten, die immer rücksichtsvoller werden, je näher sie herankommen. Scherzer hat diese Vereinbarungen für sich mit einem Trick außer Kraft gesetzt. In der Rolle des Journalisten nähert er sich scheinbar naiv seinen Informanten; in der Rolle des Schriftstellers seziert er sie. Und der Schriftsteller, man weiß es ja eigentlich, darf so gut wie alles.

Was Scherzer entstehen ließ, kann Politiker und Journalisten gleichermaßen beschämen. Die einen, weil sie hier nicht etwa ganz groß rauskommen, wie sie sich wohl erhofft haben mögen, sondern ziemlich nackt dastehen. Und die anderen, weil sie die Hilflosigkeit und die Hinterhältigkeit, den Scharfsinn und den Stumpfsinn, das Banale und das Brachiale der Politik nicht schon mal selbst so schön beschrieben haben.

Und wie riecht dieses Buch nun?

Auf Seite 132 trifft Scherzer den früheren Innenminister Willibald Böck zum Abendessen mit Wein beim Italiener in Erfurt. Böck erzählt, wie das so war, als er, noch richtig wichtig, im Bundeskanzleramt bis tief in die Nacht auf Helmut Kohl warten durfte. Wie der dann, müde vom Regieren, hereingetrottet kam, in Strickjacke und Hauslatschen. Und Böck, vom Wein wohl etwas erregt, wiederholt es für Scherzer: "In Strickjacke und Hauslatschen! Das muss nicht immer gut sein. Denn wer die Mächtigen in ihrer Schwäche sieht, ist selbst in Gefahr."

Ja, wenn das stimmt, dann sind wir alle in Gefahr. Jedenfalls alle, die den Letzten lesen.

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