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Hamburg weiß0 Bescheid Demonstranten nach der Wahl von FDP-Politiker Kemmerich zum Ministerpräsident von Thüringen durch Stimmen von AfD und CDU.

© imago images/Jannis Große

Runter vom Kriegspfad!: Der politische Diskurs muss sich verändern

In Thüringen geht es jetzt nicht ums Verzeihen, es geht darum, aus den Fehlern zu lernen. Wir dürfen nicht in die AfD-Falle tappen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Ach, wenn wir manchmal doch nur was von den Irokesen hätten. Benjamin Franklin und andere amerikanische Staatsleute haben sich von ihnen inspirieren lassen, als es um ihre Verfassung ging, 1787 war das.

Gut, die Irokesen, genauer: fünf Stämme, die sich zum Bund der Irokesen vereinigten, wollten eine Räteverfassung. Aber das war wahrscheinlich auch gedacht als eine Art Institutionalisierung des großen Palavers. Was jetzt keineswegs abwertend gemeint ist; heute würde man dazu „Diskurs“ sagen. Und wenn eines sicher ist, dann das: Nach Thüringen, diesem Desaster, diesem Schock, braucht die Gesellschaft mehr Diskurs denn je. Die Frage ist allein: welchen?
Die Gesellschaft, das ist kein fernes oder aseptisches Ding, oder ein Pokal, der ein bisschen poliert werden kann und dann wieder schön auf dem Vertiko der Republik steht. Nein, „die Gesellschaft“ sind wir alle. Wie sich zeigt, wenn man ins Netz schaut. Was da los ist, seit Thomas Kemmerich plötzlich Ministerpräsident in Thüringen wurde, für drei Tage.
Diskutiert wird, dass die Balken sich biegen – nur leider vielfach, tausendfach, in einer Weise, die der Sache nicht zuträglich ist. Ja, der Kemmerich: 73 Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde, und dann lässt er sich maßgeblich von Antidemokraten ins höchste Regierungsamt hieven. Ausgerechnet in der Republik, in der Weimar liegt; ausgerechnet dort, wo die Nazis stark wurden.

Das war zu viel, um ruhig zu bleiben; das war in der Tat unverzeihlich. Aber es geht auch nicht ums Verzeihen, es geht ums Daraus-Lernen.

Maß und Mitte

Was genau lernen wir daraus? Dass das Wahren und Hüten der Demokratie Maß und Mitte erfordern, und zwar besonders von denen, die sich Demokraten nennen. Gutmenschengewäsch? Könnte man meinen.

Nur ist Demokratie wohlverstanden der fortwährende Versuch, bei allem Irrtum, zu dem der Mensch fähig ist, zum Richtigen zu finden. Im Palaver halt, um sich zu vergewissern, dass es so und nicht anders besser ist. Das ist immer noch modern, gerade angesichts des Gestrigen, das sich heute zeigt. Deshalb: Wir alle, die wir uns nicht außerhalb der Gesellschaft, des demokratischen Gemeinwesens stellen wollen, dürfen der AfD nicht in die Falle tappen. So radikal wie die kann keiner werden, der den Radikalismus ablehnt. Sonst würde er sich selbst unglaubwürdig in seinem Anspruch machen.

Die Radikalität der eigenen Leute

Sonst würde damit, noch schlimmer, die Tür zu Radikalität bei den eigenen Leuten, den demokratischen Anhängern, geöffnet. Die Art, in der jetzt die gesamte FDP für das Desaster um Kemmerich beschimpft und sogar angegriffen wird, ist ein warnendes Beispiel. Wenn das Schule macht, wer gewinnt dann? Die AfD. Denn sich selbst in seiner – demokratischen – Art zu delegitimieren bedeutet, das, wofür die Antidemokratische Front in Deutschland steht, zu legitimieren. Festzuhalten bleibt, dass bei allem, was da faul war und schiefgelaufen ist im Staate Thüringen, inzwischen einiges richtig läuft: Die Verantwortlichen gehen in Sack und Asche, und ob sie sich von ihren Fehlern erholen, ist nicht sicher.

Eine Art von Selbstreinigung

Dabei ist nicht allein von Kemmerich die Rede, sondern von allen, die im Hintergrund in der einen oder anderen Weise mitgewirkt haben, also auch von den Lindners und Mohrings.
Wegen des konstitutiven Elements der politischen Willensbildung, der Meinungsfreiheit, hat eine Form von Selbstreinigungsprozess begonnen. Schwach zwar, aber doch.

Es wächst ja zugleich der Konsens wieder, dass so etwas wie in Thüringen gar nicht geht. Ein Hoch auf die Grund- und Bürgerrechte! So verrückt das gerade klingen mag, die liberale (!) Wertebasis, die auch durch Mehrheitsentscheidung nicht antastbar ist, unterscheidet uns doch von der Tyrannei. Es gibt das Recht auf Opposition, aber im rechten, nein, besser: richtigen Maß, das unsere demokratische Verfassung vorgibt. Die im Parlament gilt, im Netz, überall. Wir müssen nicht auf den Kriegspfad gehen. Wir können über alles reden. Das müssen wir aber auch.

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