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Auf dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos wird wieder campiert - und protestiert.

© dpa

Ägypten droht eine Staatskrise: Der Präsident ist geschwächt, das Volk entzweit

Die Turbulenzen in Ägypten wachsen sich zu einer Staatskrise aus. Auch in der Nacht zum Samstag gingen die Proteste weiter, wieder campieren die Menschen auf dem Tahrir-Platz. Unklar ist, wie die Krise ausgeht.

Seit sechs Uhr früh ist sie auf den Beinen. Hose, Jacke und Hände sind weiß bekleckert, nur die Fingernägel leuchten wie rote Punkte. „Es wird noch viel mehr Blut fließen“, sagt Bahia Shehab. „Denn wir haben keine andere Wahl. Wir müssen jetzt auf der Straße kämpfen, um eine Diktatur abzuwenden. Mursi kapiert es einfach nicht.“

Den Zugang zum Tahrir-Platz sperren jetzt Barrikaden aus Stacheldraht, herausgerissenen Eisentoren und Sandsäcken. Direkt dahinter sprüht die Künstlerin an ihrem neuen Graffiti, nebenan liegt bereits ein beträchtlicher Vorrat zerkleinerter Pflastersteine aufgehäuft. „Wir sind wieder da“, malt sie in kantigen arabischen Lettern auf den Asphalt und natürlich ihr „La“, das arabische Nein. Das „La“ hat sie bekannt gemacht.

Ihre Installation „Tausend Mal Nein“ nach der ägyptischen Revolution war auch in Deutschland im Haus der Kunst in München zu sehen. Studiert hat Bahia Shehab Grafikdesign in Kairo. Seit Präsident Mursis umstrittenen Justiz-Dekreten arbeitet sie wieder auf der Straße. Dessen Rede vom Vorabend kommentiert sie mit kalter Wut. „Jetzt sollen wir am Samstag zum Tee in seinen Palast kommen, damit es uns endgültig in die Pfanne haut“, schimpft sie.

Besonders regt sie auf, dass Mursi die Demonstranten bezichtigt, bezahlte Handlanger des alten Regimes zu sein. „Wir wollen eine anständige Verfassung, die unsere Rechte wirklich garantiert, die wir uns mühsam erkämpft haben.“ Mit ihren roten Schablonen muss sie noch sechs Mal „Nein zu einem neuen Pharao“ auftragen, dann will sie weiter.

Seit den schweren Ausschreitungen Mitte der Woche geht in der ägyptischen Hauptstadt Kairo die Angst um. Selbst die sonst so munter krähenden Gebetslautsprecher klingen an diesem Freitag irgendwie kleinlaut. Die einen hasten mit geduckten Köpfen durch die Straßen, andere starren in den Teehäusern auf die pausenlos laufenden Fernseher. An einer Häuserecke stehen Männer rauchend zusammen und diskutieren mit gedämpfter Stimme.

Und alle fragen sich, wie es nun weiter gehen soll mit ihrem Land, nachdem Präsident Mohammed Mursi am Vorabend in seiner Rede an das Volk jeglichen Kompromiss im Streit um die Verfassung abgelehnt und stattdessen seinen politischen Kontrahenten unverhohlen gedroht hatte. Noch eine Woche bleibt bis zum Referendum am 15. Dezember, ein Termin, an dem Mursi nicht rütteln lässt.

Und so wachsen sich Ägyptens politische Turbulenzen immer stärker zu einer alles bedrohenden Staatskrise aus. Der Präsident ist geschwächt, das Volk entzweit. Wie fremde Heerscharen stehen sich die beiden politischen Großlager von Islamisten und Säkularen gegenüber, scheinbar zu allem entschlossen. Misstrauen und Verdächtigungen vergiften das politische Klima. Und aus dem Torah-Gefängnis dringt die Kunde, der eingesperrte alte Hosni Mubarak sei wieder bester Laune, die Depressionen wie verflogen.

Einen Diktator gegen den anderen getauscht?

Nachfolger Mohammed Mursi wirkte am Donnerstagabend bei seiner Fernsehrede genauso angespannt und stur-verbarrikadiert, wie sein Vorgänger während der 18-tägigen Revolution 2011 bei seinen legendären Nachtappellen an das aufgebrachte 80-Millionen-Volk. Wie der einstige Kampfflieger Mubarak, ist auch der islamistische Ingenieur Mursi aufgewachsen in einer politischen Welt, wo allein die Macht zählt, es keine Kompromisse gibt und man Andersdenkende einfach überrollt.

„Die Mehrheit zählt – das ist Demokratie“, belehrte Mursi mit flackernden Augen und gepresster Stimme vom Präsidentenpult aus die Nation, die atemlos an Bildschirmen und Radios lauschte. Seine politischen Gegner beschimpfte er als „fünfte Kolonne“ und drohte ungeschminkt, man habe sie alle im Auge und werde mit den Verschwörern aufräumen.

Seine Anhänger dagegen fuhren mit lärmenden Lautsprecherwagen durch die Stadt, aus denen patriotische Lieder dröhnten. „Schützt Ägypten – ja zur Verfassung und für Stabilität“ und „Das Volk will die Scharia“ steht auf ihren Transparenten. Längst betrachten die Muslimbrüder den Scharia-Bezug in der Verfassung als die wichtigste Trophäe ihres Kampfes nach 80 Jahren Unterdrückung und politischer Verfolgung. Ihren Vormann auf dem Präsidententhron verehren sie wie ein Idol und einen Erlöser.

Dessen Gegner dagegen campieren wieder auf dem legendären Kreisverkehr. Auf dem Tahrir-Platz, aber auch vor dem Präsidentenpalast in Heliopolis, forderten am Freitag erneut Zehntausende in Schlachtgesängen den Sturz des Staatschefs. Dicht an dicht reihen sich die Zelte, überall liegen Knüppel und Eisenrohre griffbereit, weil alle mit einem Sturmangriff der Muslimbrüder rechnen. Denn die Fronten verhärten sich weiter und der Ton wird immer gereizter.

Das säkulare Lager auf dem Tahrir-Platz will nicht mit dem Präsidenten reden, der ihre Wortführer für Samstag 12 Uhr 30 zu sich in den Palast geladen hat. „Gewalt, Faschismus und Versagen – das ist die Art der Muslimbrüder, Krisen zu managen“, twitterte der Politologe und liberale Ex-Abgeordnete Amr Hamzawy, der lange in Berlin gelehrt hat. Nach Mursis Rede letzte Nacht sei „die Tür für jeden Dialog zugeschlagen“, erklärte Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei, Sprecher des Oppositionsbündnisses „Nationale Rettungsfront”.

Zwischen den Zelten aber sitzt Adel Abou Hussein. Von seinem Plastikstuhl aus hat der pensionierte Oberst den ganzen Platz im Blick. Die Bügelfalten an seinem hellblauen Hemd sind tadellos, das Jackett liegt säuberlich gefaltet auf seinen Knien. „Zum Schlafen im Zelt bin ich zu alt“, sagt der 62-Jährige, der sich von Zeit zu Zeit eine Zigarette gönnt. Das Volk aber habe nicht den einen Diktator verjagt, um sich jetzt einen neuen einzufangen. Seit acht Tagen kommt der weißhaarige Mann jeden Morgen hierher, nach dem Abendgebet zum Sonnenuntergang geht er nach Hause.

Graffiti-Künstlerin Bahia Shehab ist dann bereits auf dem Weg zu Mursis Präsidentenpalast in Heliopolis. Im Schutz der Nacht will sie sich mit ihrer Farbdose heranschleichen, an die Palastmauern die Namen aller 51 Kinder sprayen, die vor zwei Wochen bei dem schrecklichen Zugunglück in Assiut ums Leben kamen. „Ich habe die Liste bei mir, eine Familie hat gleich vier Kinder verloren“, sagt sie. Darum sollte sich Mursi kümmern. „Er ist der Präsident aller Ägypter, auch dieser Kinder, und nicht nur seiner Muslimbruderschaft.“

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