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Politik: Der Sieger darf nicht selbst regieren

Erdogans Islamisten-Partei gewinnt die Mehrheit in der Türkei – Ministerpräsident kann der Parteichef wegen einer Vorstrafe aber nicht werden

Der Mann der Stunde lächelte überlebensgroß auf seine jubelnden Anhänger herab. Vor der Parteizentrale der Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei (AKP) in Ankara, die mit einem großen Porträt des Vorsitzenden Recep Tayyip Erdogan geschmückt war, versammelten sich am Sonntagabend tausende AKP-Wähler, um einen Erdrutschsieg zu feiern. Alle Regierungsparteien flogen aus der Volksvertretung – wegen der Zehn-Prozent-Hürde – und nur zwei politische Kräfte bekamen das Vertrauen der Wähler. Die Türkei erlebt ein politisches Erdbeben. Bei der vorgezogenen Parlamentswahl wählten die Türken einen radikalen Weg: Weg mit den Alten, her mit den Neuen. Es ist der „Super-Gau“ für das politische Establishment in Ankara, denn die AKP, die ihre Wurzeln im politischen Islam hat, wird von Justiz und Militärs argwöhnisch beobachtet. Nun steht das einzige moslemische Nato- und EU-Bewerberland am Beginn einer neuen Ära.

Die erst im vergangenen Jahr gegründete AKP des 48-jährigen Istanbuler Ex-Bürgermeisters Erdogan kam nach den Hochrechnungen auf 34 bis 35 Prozent der Stimmen und damit mindestens 280 der 550 Sitze im Parlament; solche Werte hat in der Türkei seit Jahrzehnten keine politische Kraft mehr erreicht. Als erste Partei seit 20 Jahren wird die AKP alleine regieren können. Bei seinen ersten Auftritten nach dem Sieg bemühte sich Erdogan darum, Sorgen wegen der angeblichen – und von der AKP zurückgewiesenen – islamistischen Tendenz seiner Partei zu zerstreuen: In staatsmännischer Manier zitierte er den türkischen Republik-Gründer Atatürk und bezeichnete die beschleunigte Annäherung der Türkei an die EU als erste Priorität seiner Partei. Niemand müsse sich Sorgen machen.

Das sahen die Wähler offenbar ähnlich. Erdogans Erfolg reflektiert keinen Hang der Türken zu einer islamischen Gesellschaftsordnung, sondern die Sehnsucht nach einer guten, sauberen Regierungsmannschaft. Das islamistische Wählerpotenzial der Türkei wird auf etwa 15 bis 20 Prozent der Stimmen geschätzt. Doch Erdogan erhielt weit mehr Stimmen, und die kamen von Wählern, die gegen die Wirtschaftskrise und gegen die korrupte Politiker-Klasse in Ankara protestieren wollten. Viele erinnern sich auch an Erdogans Istanbuler Lokalpolitik in den neunziger Jahren. Dort brachte er die Wasser- und Stromversorgung in Ordnung, ließ tausende Bäume pflanzen und kümmerte sich um die Armenviertel. Dass Erdogan aus seiner persönlichen Frömmigkeit kein Geheimnis macht, ist ein weiterer Bonus, denn er spricht vor allem die konservativen Unterschichten an.

Als einzige Kraft außer der AKP profitierte die CHP von Deniz Baykal von der Kehrtwende der Wähler. Das ist kein Wunder, denn die sozialdemokratisch-kemalistische Partei war in den letzten drei Jahren nicht im Parlament vertreten – sie konnte bei der Wahl also wie Erdogans Truppe glaubhaft versprechen, in Ankara aufzuräumen.

Die neue Legislaturperiode beginnt für die AKP aber mit Problemen. Sie muss ihre Gegner im Staatsapparat von ihrer Republik-Treue überzeugen. Außerdem läuft gegen die Partei ein Verbotsverfahren. Noch bevor sie diese Herausforderungen angehen kann, muss sich die AKP einen Ministerpräsidenten besorgen: Erdogan darf wegen einer Vorstrafe nicht Regierungschef werden. Dass sich die Wähler von diesem Manko der AKP nicht abschrecken ließen und die Partei trotzdem zur stärksten Kraft machten, wertete der frühere Parlamentspräsident Hikmet Cetin im türkischen Fernsehen als zentrale Botschaft des Abends: „Die Menschen wollen einen demokratischen Neuanfang.“

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