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Politik: Der Sommersonnenapfelbaumtraum

Das war mal eine Mode: Im Kibbuz leben, sozialistisch, gemeinschaftlich, ohne Geld oder Druck. Auch Claudia Adada aus Stuttgart zog vor 30 Jahren nach Israel – und blieb. Von der guten Idee, das weiß sie, ist nicht viel übrig.

Da steht sie also seit Januar ganz unscheinbar auf einem Tisch zwischen zusammengefalteten Handtüchern und Kleidersäcken: eine silberfarbene Waage, die plötzlich den Unterschied macht und den Untergang einer sozialistischen Idee symbolisiert. Der nämlich, dass jeder so hart arbeitet, wie er kann, und dafür genau das bekommt, was er zum Leben braucht. Claudia Adada packt sich einen Stapel zusammengefaltete Wäsche unter den Arm und huscht vorbei an der Waage, die später die sauberen Wäscheberge wiegen soll. „Schöne Idee“, sagt sie, „ich glaube aber mittlerweile, dass es einfach gegen die Natur des Menschen geht.“

Die Waage enttarnt die Vielwäscher und macht den Unterschied sichtbar zu den Wenigwäschern. Dabei sollte das doch keine Rolle spielen, hier im Kibbuz Ramat Rachel, in dem die Deutsche Claudia Adada seit gut 30 Jahren lebt, etwas mehr als ihr halbes Leben lang.

Kein Einkommen, kein Eigentum, dafür Wohnraum, Essen, Wäschewaschen und Kinderbetreuung nach Bedarf und umsonst. Das war die Idee hinter den Kibbuzim in Israel, den ländlichen Kollektivsiedlungen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Israel gegründet wurden. Ramat Rachel ist einer von einigen Hundert dieser Art. Am südöstlichen Zipfel Jerusalems gelegen, umgeben von arabischen Dörfern. Einmal zerstört im Unabhängigkeitskrieg 1948 und wieder aufgebaut von jenen, die nicht aufgeben wollten. Die an das Leben im Kibbuz glaubten, an die gute Idee. Was ab den späten 1960er Jahren auch viele Deutsche taten, die zeitweise (die meisten) oder für immer, wie Claudia Adada, nach Israel gingen.

Und was ist von der Idee heute übrig? Nur ein Bruchteil, ist Claudia Adada überzeugt. „Die Zeiten verändern sich, und wir können nicht stehen bleiben“, sagt sie, und legt den Wäschestapel mit der Nummer 105 auf einen langen, orangefarbenen Metalltisch. Jedes Kibbuz-Mitglied, Kibbuznik genannt, hat seine eigene Zahlenkombination, damit nichts durcheinanderkommt. Claudia Adada bindet die Wäschepakete zusammen.

Seit 14 Jahren arbeitet sie in der Wäscherei. Nach wie vor muss hier vieles praktisch sein und vor allem funktionsfähig. Schönheit ist nebensächlich. Und so bröckelt der Putz von den Wänden, und der Lack der Rolltische, auf denen die Wäsche gefaltet wird, splittert ab. Doch die Wäsche duftet sauber, ist faltenlos zusammengelegt und nach Nummern gestapelt.

Claudia Adada legt Plastikschnüre um den Stapel, wie bei einem Postpaket, klebt die mit einem Gerät zusammen. Dann bringt sie die Wäsche zurück in den Raum mit der Waage und legt sie in das Regal mit der Nummer 105. Wenn der Besitzer in den kommenden Tagen auftaucht, wird sie die Wäsche zunächst wiegen. Denn seit Januar müssen die Kibbuzniks pro Kilo 2,80 Schekel, rund 60 Cent, zahlen. „Der Betrag ist ja nur simli“, sagt Claudia, also symbolisch. „Für uns war es aber eine riesige Veränderung. Seither geben die Leute viel weniger Wäsche ab.“ Aus monatlich 600 Hosen wurden 160. Aus 700 Hemden 280. „Daran sieht man doch, dass hier etwas gewaltig schiefgeht.“

Es ist eine kibbuzeigene Form der Kommerzialisierung und Privatisierung, die auch den Speisesaal und die Autovermietung von Ramat Rachel erreicht hat. Die Mitglieder bekommen nun einen bestimmten Betrag für das Waschen, Essen und Autofahren zugeteilt, zusätzlich zu dem kleinen Taschengeld. Auch das wurde in den vergangenen Jahren je nach Dienstalter erhöht. Für Claudia Adada sind das 2000 Schekel, gut 400 Euro monatlich.

Ramat Rachel ist einer der Spätzünder. Viele der 273 Kibbuzim haben schon Ende der 90er Jahre mit der Privatisierung begonnen. 75 Prozent sind heute neu strukturiert. Viele Kibbuzim zahlen mittlerweile Gehälter je nach Art und Dauer der Arbeit, geben Dividenden an ihre Mitglieder ab und lassen auch Menschen, die außerhalb arbeiten, im Kibbuz wohnen. Michal Palgi vom Institut für Kibbuzforschung an der Universität Haifa erklärt das mit „ökonomischen Gründen“. „Nach der Inflation Mitte der 80er standen viele Kibbuzim finanziell schlecht da. Außerdem hat sich die Ideologie der Mitglieder verändert.“ Viele seien kapitalistischer geworden – wie auch die Israelis jenseits der Kibbuzims.

1977 reiste Claudia zum ersten Mal als Freiwillige nach Ramat Rachel. Es war der Tipp einer Freundin. Mehr als fünf Jahre lang kam sie immer wieder zurück. „Die Idee gefiel mir unheimlich. Das war wie eine riesige Wohngemeinschaft. Ich habe mich in den Kibbuz verliebt und bin dann Mitglied geworden.“ So war sie nach ihrer Ausbildung als Zahnarzthelferin ständig unterwegs, hat drei Monate in Deutschland gearbeitet, war dann wieder in Israel. „Sommer, Sonne, Apfelbäume. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie schön das war“, sagt sie. Dass sich das alles einmal verändern würde, hätte sie damals nie gedacht.

Inzwischen gibt es ein paar Meter von ihrem Haus entfernt ein kibbuzeigenes Altenheim. „Ich hoffe, dass es auch auf uns wartet“, sagt Claudia Adada. Die Veränderungen in den Kibbuzim machen sie durchaus unruhig: Was geschieht mit den Senioren, wenn der Kibbuz privatisiert wird? Woher kommt ihr Geld? Ramat Rachel habe wenigstens vor gut acht Jahren angefangen, private Rentenversicherungen für die Mitglieder abzuschließen.

Claudia Adada hat ihre angegrauten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sie trägt eine graue Jogginghose und Turnschuhe. Ihre Kleidung muss im Kibbuz praktisch sein. Heute wie damals arbeitet sie dort, wo sie gebraucht wird. Mal legt sie Wäsche zusammen, mal steht sie an der Mangel. Danach kümmert sie sich um Rechnungen und Löhne. Aber die Überall-Einsatzwilligen werden weniger. „Früher hat man mir gesagt: ‚Wir brauchen jemanden im Kinderhaus.’ Also habe ich dort auf die Kinder aufgepasst. Wir haben da nicht überlegt, ob uns das gefällt. Der Kibbuz hat uns gebraucht, wir waren da.“ Heute seien die Menschen wählerischer, mehr aufs eigene Wohl bedacht. „Heute heißt es: ‚Nee, das mag ich nicht, das will ich nicht.’“ Die Veränderungen kamen schleichend. Erst nach und nach habe sie das erkannt. „Es gab Zeiten, da war ich darüber verärgert, auch traurig“, sagt sie. „Und heute sage ich mir, so ist das einfach. Muss man mal schauen, wo uns das hinführt.“

Im Raum nebenan, in dem die vier großen Waschmaschinen abwechselnd Wasser pumpen und schleudern und die Trockner die Wäsche im Kreis wirbeln, ruft Claudia Adada nach ihrem Kollegen Khaled. Einer der Trockner schließt nicht mehr richtig, ein Plastikteilchen muss ausgetauscht werden. Claudia Adada drückt die Türe schwungvoll zu, zieht sie wieder auf und fummelt am Gummiring, dann fuchtelt sie mit den Armen, um deutlich zu machen, was sie will. Dass sie heute mit Khaled, Muhammed und anderen arabischen Kollegen aus dem Nachbarort zusammenarbeitet, liegt nicht nur daran, dass die Kibbuzniks wählerischer geworden sind. Wo heute ihre sieben Jungs, wie sie die Männer nennt, an der Mangel stehen oder Wäsche sortieren, standen früher Volontäre.

Die 70er und 80er Jahre waren eine Hochzeit für die Helfer von außerhalb, die sich auf den Feldern oder in der Küche Taschengeld verdienten. „Du hast hier Leute aus aller Welt kennengelernt. Wir sind ja ein Winz-Kibbuz mit nur 120 Mitgliedern, hatten aber 100 Volontäre.“ Jahrzehnte ging das gut, dann kam im Jahr 2000 die zweite Intifada, wöchentlich gab es irgendwo im Land einen Anschlag. Busse gingen in die Luft, viele auch in Jerusalem. Die Ära der freiwilligen Helfer war vorüber. Die Kibbuz stellten Arbeiter von außerhalb ein. So ging es fast allen. Waren es in den 80ern noch rund 250 Kibbuzim, die Freiwillige aufnahmen, sind es heute nach Angaben der Organisation „Kibbuz-Bewegung“ nur noch 27. Ganz wolle man auf die Freiwilligen nicht verzichten. Es müsse sich aber zusätzliche Arbeit für sie finden.

Im hintersten Raum der Wäscherei, wo auch die Waage steht und der Lärm der Maschinen nur dumpf hineindringt, faltet auch Jasmin Adada Handtücher zusammen. Sie ist Claudias Tochter, eines von drei Kindern. Für sie ist Claudia zum Judentum konvertiert. Denn Jude ist nur, wer eine jüdische Mutter hat. „In Israel ist es wichtig, jüdisch zu sein. Ich wollte nicht, dass meine Kinder Nachteile haben, nur weil ich zu faul war, einen Kurs zu machen.“ Ihre Kinder seien alle richtige Israelis, sagt Claudia Adada. Sie selbst sei immer noch halb Deutsche geblieben. Wenn sie Deutsch spricht, verrät ihr schwäbischer Singsang sogar ihre Heimat Stuttgart.

Die 25-jährige Jasmin hat den in Israel obligatorischen Wehrdienst abgeleistet, zwei Jahre dauert er für Frauen, drei Jahre für Männer. Dann war sie im Ausland unterwegs. Im Herbst will sie zum Studium nach Tel Aviv ziehen. „Es war schön, hier aufzuwachsen. Hier ist es grün, wir konnten draußen spielen.“ Doch sie fühle, dass es Zeit sei zu gehen. Nicht nur, weil ihre Mutter ihr das seit Jahren einbläue. „Ich habe es irgendwann selbst gemerkt. Es ist bequem hier, man hat Arbeit. Aber ich will mehr.“

Die Mutter steht daneben, die Hände in die Hüften gestemmt und lächelt zufrieden. Sie ist froh, dass ihr 27-jähriger Sohn Michael schon ausgezogen ist und mit seiner Frau in Petach Tikwa nahe Tel Aviv lebt. Der 29-jährige Eliad studiert noch in Jerusalem. Wenn er fertig ist, soll auch er möglichst woanders unterkommen.

Kurz nach zwölf Uhr mittags macht sich Claudia Adada auf den Weg in den Speisesaal. „Zwischen zwölf und Viertel vor eins gibt es Mittagessen“, sagt sie. Zwischen acht und halb neun Frühstück, zwischen sechs und sieben Abendessen. „Und wenn du Hunger hast abends um acht – ja, dann kannst gucken.“ Dann gebe es eben nichts mehr. Und dieses Organisierte, Reglementierte passe heute einfach nicht mehr.

Claudia Adada klingt nicht, als sei sie traurig über das neue Leben im Kibbuz. Sie weiß, dass sie sich für ihre Kinder kaum einen schöneren Ort hätte vorstellen können, um groß zu werden. So gut wie kein Autoverkehr, viel Natur und Kindergärten, in denen vier Betreuerinnen auf 15 Sprösslinge aufpassen. Aber es scheint, als sei Claudia Adada aufgewacht aus einem Traum vom perfekten Leben im Kibbuz. Oder: erwachsen geworden. „Als junger Mensch denkst du nicht an alles. Wie das ist, wenn du 40 Jahre gearbeitet hast und deinen Kindern nicht mal einen Flug ins Ausland bezahlen kannst. Das ist nervig.“

Nach dem Mittagessen schaut sie noch bei der 67-jährigen Miriam vorbei. Claudia Adada geht den kleinen Weg vor den Reihenhäuschen entlang. Das Gras sprießt, die Bäume blühen, Vögel zwitschern. Kaum ein Mensch ist unterwegs. Auch das sei früher anders gewesen: „Alle waren unterwegs. Die Gemeinschaft war ganz anders. Wir haben nicht fern geschaut, sondern uns einmal die Woche zum Filmgucken im Speisesaal getroffen.“ Doch nach und nach wurde das eigene Leben, die eigene Familie wichtiger. Man lebe mittlerweile zurückgezogener, sagt Claudia Adada und klopft an Miriams Haustür, öffnet sie dann und schaut hinein. „Miriam?“

Das ist eins der Dinge, die sich nicht geändert haben. Im Kibbuz schließt immer noch kaum jemand seine Tür ab.

Die beiden Frauen setzen sich ins Wohnzimmer. Miriam wurde bereits im Kibbuz geboren und kam gleich ins Kinderhaus, denn Kinder sollten kein elterliches Eigentum sein. „Wir hatten keine eigenen Kleider, wir haben uns aus der Wäscherei das geholt, was gepasst hat. An Pessach und an Chanukka wurden uns die Haare geschnitten. Und wir konnten Flötespielen lernen.“ Für jeden gab es das Gleiche.

Claudia Adada lässt den Blick durch das Wohnzimmer und die offene Küche schweifen. Miriam hat fast 120 Quadratmeter für sich. Noch so ein Zugeständnis an die veränderten Bedürfnisse der Kibbuzmitglieder. Vor gut zehn Jahren wurden die Häuser modernisiert und ausgebaut. Auf gut 60 Quadratmetern hatte Miriam früher einmal gelebt. Für ihre sieben Kinder hatte sie gerade mal zweieinhalb Zimmer. „So war das einfach, wir haben uns keine Gedanken gemacht“, sagt Miriam.

Sie arbeitet mit 67 Jahren noch morgens in der Wäscherei. „Sie war immer eine der Fleißigen“, sagt Claudia Adada. Aber im Kibbuz würde jeder mitgezogen. „Die Alten, die Schwachen, die Kranken, die Faulen.“ Miriam wird älter, sie muss sich auf das Prinzip verlassen können, dass noch Geld da ist, wenn sie mal nicht mehr arbeiten kann.

Claudia Adada dagegen will sich nicht mehr voll auf den Kibbuz verlassen müssen. Deshalb hat sie ihre Arbeitszeiten in der Wäscherei halbiert und studiert nun an einer Hochschule, um nach zwei Jahren als Fremdenführerin arbeiten zu können. Sie weiß nicht, ob sie nachher tatsächlich auch Touristen durch das Land führen wird. Aber es sei wenigstens eine Alternative. Sie könnte durch die wieder zu dem zurückkehren, was ihr zu Beginn am Leben als Freiwillige im Kibbuz so zugesagt hat: Reisen, neue Leute kennenlernen, das Land entdecken – und so immer wieder auch das Leben selbst.

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