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Politik: Der Träne nicht wert

Von Stephan-Andreas Casdorff

Es ist doch wahr, immer wieder wahr: Nichts ist schlimmer als eine enttäuschte Liebe. Wir werden es erleben, die Schockwellen werden alle erreichen – und gerade auch die Sozialdemokraten. Er, Günter Grass, Ikone ihres Denkens, ihres Fühlens, was denn gerecht und vor allem ungerecht sei in der Welt und in der Heimat, war in der Waffen-SS. Das schlägt uns ins Gesicht, ihnen, ob sie wollen oder nicht, allen beschwichtigenden, den heißen Köpfen zur Kühlung gedachten Kommentaren wie zum Trotz. Das wird wehtun. Und nachwirken, sowohl im Gedächtnis der Partei als auch außerhalb, in der Gesellschaft, politisch aktuell. Nicht nur in Deutschland.

Es ist, als hätte er sie verraten. 60 Jahre hat er geschwiegen, das Thema gemieden. Was hat Grass in der Zwischenzeit nicht alles gesagt, geschrieben. Wie hat er den Sozialdemokraten den Marsch geblasen über all die Jahre, wenn er, der politische Moralist mit und aus Leidenschaft, Grenzen überschritten sah. Seine Toleranzgrenzen. Jetzt redet er, um noch selbst Verständnis, Toleranz zu erreichen. Es geht ja doch ums Bild von ihm.

Im Januar 1993 trat er aus der SPD aus, wegen der Asylpolitik, die er für verfehlt hielt. Das war damals, als sein Lübecker Landsmann Björn Engholm – der gelernte Schriftsetzer, der Künstler unter den Politikern, der Feingeist – die Partei führte und sie auf die wahre Wirklichkeit verpflichten wollte. Engholm, für den er 1987 geworben hatte. Asyl und Zuzug und politische Steuerung waren die Themen der Zeit. Da galt es in der Gesellschaft, tiefe Gräben zu überwinden. Grass sah sie – und überwand sie, indem er entschwand, der SPD den Rücken kehrend.

1965, 1969, 1972, später für Rot- Grün und auch für Gerhard Schröder hat er Wahlkampf gemacht. Grass hat Stellung bezogen gegen Raketen, die Militarisierung, die Ökonomisierung, für Widerstand, für die Umweltbewegung. Man denke an Die Rättin. Und immer wieder Stellungnahmen abgegeben, Politische Gegenreden, zur jüngeren politischen Geschichte der Bundesrepublik. Das waren und sind Manifeste. Gesinnung und Gesittung, er konnte jedes Wort mit einem Inhalt füllen, dass die, die er sich vornahm, klein wirkten gegen ihn. Der Titan des Scharfblicks. Aus dem Tagebuch einer Schnecke behandelt die Frage der Verantwortung der Intellektuellen. Gerade dieses Buch wird neu gelesen werden. Auch von Engholm, der bis heute von Grass’ moralischer Rigorosität verletzt ist.

Es liest sich jetzt so viel so schwierig. 1999, als er, der Dauerkandidat, dann endlich den Nobelpreis für Literatur erhält, wird auch seine politische Konsequenz gewürdigt, ihr Einfluss auf sein Schaffen. Und die „Neue Zürcher Zeitung“ schreibt: „Günter Grass kann nur als Dichter und politischer Mensch in eins ausgezeichnet werden.“ Wie wahr. Ausgezeichnet bleiben seine Werke, die kraftvollen und doch ziselierten Worte, die er fand, um Lebenssituationen zu beschreiben. Auch seine Fähigkeit zum Tabubruch, zu sehen Im Krebsgang über die Wilhelm Gustloff, das Nazi-Kreuzfahrtschiff, das mit tausenden Flüchtlingen unterging. Ach, überhaupt alles das, was mit dem Thema Trauma zusammenhängt.

Jetzt ist es raus, endlich. Nach 60 Jahren! Schirrmacher, Wolffsohn, Kempowski, sie haben doch recht: Er hat alle Gelegenheiten vorüberziehen lassen. Die Debatte über Bitburg mit Reagan, die über Schönhuber, alles. Aus Angst? Oder aus Eitelkeit, weil er nicht mit anderen Schicksalen verglichen werden wollte? Er hatte jedenfalls keinen Mut zum Bruch seines Tabus, hat das Thema seines Lebens gemieden – bis zur Seite 126 in seinem jüngsten Buch. Zum Schluss dieser Stoff: Moral und Integrität und wie sie peinigen kann. Der Versuch der Integrität nach all der Rigorosität. Jetzt will er diesen leeren Raum füllen, mit seinen Worten. Wieder schafft er es, dass alle ihm zuhören. Jetzt aber unverdient.

Beim Häuten der Zwiebel wird sich bestimmt gut verkaufen. Die Tränen dabei werden trocknen. Aber der politische Mensch, der enttäuscht. Leser, Kollegen, Menschenrechtler. Bleibend. Viele. Millionen. Nicht nur in Deutschland.

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