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Politik: „Der Übergang in eine neue Ära“

SPD-Politiker Egon Bahr und der US-Diplomat John Kornblum über das Vier-Mächte-Abkommen von 1971 und seine Bedeutung für Berlin, Deutschland und die Welt

Vor vierzig Jahren eine Sensation, heute so gut wie vergessen: So kann man das Schicksal des Vier-Mächte-Abkommens beschreiben, das am 3. September 1971, im alten Kontrollratsgebäude, das heute wieder Kammergericht ist, von den Botschaftern der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs, unterzeichnet wurde. Aber war es nicht vielleicht doch das wichtigste Abkommen für Berlin, das je es gegeben hat? Herr Bahr, Sie waren damals als Minister im Kanzleramt der Mann der Vertragsverhandlungen mit der Sowjetunion und dann mit der DDR ...

BAHR: Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Es ist ein unentbehrliches Abkommen gewesen. Denn es reparierte den Fehler der Siegermächte – wenn man das so nennen darf –, nach dem Krieg keine Vereinbarungen über den zivilen deutschen Verkehr auf der Straße, auf der Schiene und dem Wasser zwischen Berlin und dem Bundesgebiet getroffen zu haben. Erst nach dem Abkommen hat das dann bis zur deutschen Vereinigung erstklassig funktioniert.

Herr Kornblum, Sie waren als junger amerikanischer Diplomat an den Gesprächen beteiligt. Wie bewerten Sie das Abkommen?

KORNBLUM: Für mich reicht seine Bedeutung noch ein bisschen weiter. Das Abkommen war nicht nur wichtig für Berlin und Deutschland. Es war das Fundament für die gesamte Ostpolitik des Westens. Es war für den damaligen Präsidenten Richard Nixon und seinen Sicherheitsberater Henry Kissinger ein sehr wichtiger Baustein in ihrer allgemeinen Außenpolitik. Man muss sich erinnern, was in diesen Jahren alles geschah: Es gab den Vietnamkrieg, Kissingers berühmte Geheimreise nach China, erste Ansätze zu Abrüstungsgesprächen …

Und die Regierung Brandt/Scheel hatte eben die erste dramatische Phase ihres Parforceritts in Richtung Osten hinter sich gebracht: 12. August 1970 Moskauer Vertrag, 7. Dezember Warschauer Vertrag. Welchen Stellenwert hatte in diesem Ereignis-Geleitzug das Berlin-Abkommen?

BAHR: Wir haben in Moskau gesagt, wir können den Vertrag, den Moskauer Vertrag, nicht in Kraft setzen, weil wir ohne ein befriedigendes Berlin-Abkommen dafür keine Mehrheit im Bundestag bekommen würden. Wir stellten also ein Junktim her. Danach wurde die Sowjetunion kooperativer und erklärte sich bereit, an Erörterungen unter ihren alten Kriegsalliierten teilzunehmen – wie ihr Außenminister Andrej Gromyko sagte –, um die Situation um West-Berlin zu regeln.

KORNBLUM: Aus amerikanischer Sicht kam hinzu, dass es seit dem Bau der Mauer nicht gut lief zwischen den Amerikanern und den Deutschen. Kennedy und Adenauer waren sich fremd. Es gab in Amerika auch eine gewisse Skepsis gegenüber der deutschen Ostpolitik. Das Berlin-Abkommen stellte dann wieder einen Konsens her zwischen den Deutschen und den Amerikanern und beendete endgültig die Berlin-Krise von 1958.

Vor allem aber ging es doch um die schwierige Lage West-Berlins ...

BAHR: O ja, ich erinnere mich genau an Kabinettssitzungen noch in der Großen Koalition in Bonn, wo wir beraten haben, von welcher Wartezeit an die Lastwagen entschädigt werden müssten, wenn die DDR die Ampeln wieder einmal auf Rot gestellt hatte: Fünf Stunden? Sieben Stunden? Wir waren abhängig und konnten jederzeit wie eine Zitrone gepresst werden, wann es denen gefiel.

Das Abkommen selber ist ja ein ziemlich kompliziertes Gebilde. Die Veröffentlichung damals im Tagesspiegel umfasste eine eng gedruckte Seite mit Anhängen, Briefen, Erklärungen. Was war die Essenz dieses – wie Bender schrieb – „Seminarstücks für Juristen und Diplomaten“?

BAHR: Es waren zwei große Dinge, die durch das Abkommen erreicht wurden. Das erste: Berlin-West, die Insel, war durch eine korridorähnliche Regelung näher an das „Festland“ der Bundesrepublik gerückt, die Reise über die Transitstrecken wurde berechenbar, die Schikanen waren zu Ende. Und das zweite, nicht weniger wichtige Ergebnis war: Die Sowjetunion bestätigte, dass sie letztverantwortlich dafür war, das alles im Rahmen der vier Mächte zu garantieren und aufzupassen, dass die DDR sich daran hielt. Der entscheidende Punkt lag dann in der Struktur des Abkommens. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte konnten die vier Mächte nicht mehr allein entscheiden, sondern sie brauchten die Mitwirkung der beiden deutschen Regierungen. Damit wurde das Modell 4-plus-2 geboren, aus dem dann 19 Jahre später 2-plus-4 wurde. Und es verschaffte mir die Aufgabe, mit dem DDR-Vertreter, Michael Kohl, über ein Transit- und Verkehrsabkommen zu verhandeln – dem ersten, ganz unentbehrlichen Vertrag, der den Rahmen ausfüllte, den das Vier-Mächte-Abkommen gesetzt hatte.

Heute gilt das Vier-Mächte-Abkommen als ein unbestrittener Erfolg. Damals gab es heftige Auseinandersetzungen darüber – Debatten im Abgeordnetenhaus, im Bundestag …

BAHR: Ich hätte Deutschland verkauft, nur noch nicht geliefert, hat Herr Strauß gesagt. Ich habe das nicht vergessen.

KORNBLUM: Es hat innerhalb der westlichen Regierungen richtige Kämpfe gegeben. Es war ja das erste Mal, dass man bereit war, die DDR als Teilnehmer an einem Prozess zu akzeptieren. Und es gab Leute bei uns, die dazu einfach nicht bereit waren, weil sie groß geworden waren mit den alten Doktrinen. Dieses Abkommen ist auch deshalb so bedeutend, weil es eigentlich den Übergang in eine neue Ära markierte. Diese Jahre von, sagen wir 1970 bis 1975, waren eine Phase des Aufräumens, auch in den Köpfen der Amerikaner.

Der Westen hat im Berlin-Abkommen ja auch Gegenleistungen erbracht, die vielen nicht leicht fielen. Zum Beispiel die Zustimmung dazu, dass Berlin „kein Bestandteil“, kein – wie es hieß – „konstitutiver Teil“ der Bundesrepublik sei und von ihr auch nicht regiert werden dürfe.

KORNBLUM: Na ja, es gab diese Sachen – der Bundespräsident durfte in Berlin nicht mehr gewählt werden, der Bundestag und Bundesrat nicht tagen und einiges andere mehr.

Und es gab die Differenzen zwischen West-Alliierten und Sowjets darüber, ob zwischen der Bundesrepublik und Berlin „Bindungen“ bestünden – so die Westmächte – oder – nach sowjetischer Lesart – nur „Verbindungen“. Das hätte immerhin fast den Abschluss des Vertrags verzögert.

BAHR: Wir haben mit diesem Unterschied gelebt bis zum Ende der Teilung und er hat nichts mehr bedeutet, praktisch. Aber bis heute kenne ich den russischen Ausdruck „Swasi“, dass bedeutet nämlich Bindungen und Verbindungen.

Wie würden Sie heute die Wirkung dieses Abkommens beschreiben? Was hat es in seiner vergleichsweise kurzen Existenz – es war ja nicht einmal zwanzig Jahre in Kraft – politisch gebracht?

BAHR: Erstens, es brauchte bis zur deutschen Einheit nicht mehr geändert zu werden – was zeigt, dass es funktioniert hat. Und zweitens war nicht nur die Existenz West-Berlins gesichert, sondern es gab auch keinerlei Akte, Versuche, Vorschläge zur deutschen Einheit mehr. Das Abkommen hat die Verhältnisse in Europa stabilisiert und dessen Status quo praktisch, na ja, zementiert kann man nicht sagen, aber jedenfalls de facto akzeptabel gemacht. Es war das klassische Beispiel für die Richtigkeit von Kennedys Weisheit: Wer den Status quo verändern will, muss ihn zunächst anerkennen.

KORNBLUM: Und es hat auch sozusagen die Definitionen geschaffen, mit denen man die Situation in Europa begreifen und mit ihr umgehen konnte. Ich bin überzeugt davon, dass es ohne das Berliner Abkommen zum Beispiel nicht die Schlussakte von Helsinki gegeben hätte. Nur dank dieses Abkommens konnte es gelingen, die KSZE, die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ zustande zu bringen, und das Gleiche gilt für MBFR, die „Mutual Balanced Force Reductions“, die Konferenz über den Truppenabbau in Mitteleuropa, ja, in gewissem Sinn auch für die Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion und zu Polen. Dieses Abkommen war sozusagen die Quelle auch für andere Fortschritte, die sehr wichtig waren. Am Ende aller dieser Entwicklungen sah dann die Lage in Europa anders aus.

Das Gespräch führte Hermann Rudolph.

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